Meinrad Lienert (1865 – 1933) – Ein Schweizer Erzähler (IV)
Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU
Meinrad Lienerts Potential als Autor von Einsiedeln und engagierter Landsmann des Kantons Schwyz erschöpfte sich nicht im Schicksalsjahr 1798, welches für mindestens ein Jahrhundert das Innerschweizer Geschichtsbewusstsein prägen sollte. Das tausendjährige Einsiedeln fand bei ihm im schicksalhaften Marchenstreit, in gelungenen Darstellungen von Morgarten und Marignano statt, nicht zuletzt in der volksnahen Vermittlung des geheimnisvollsten und weltläufigsten Einsiedlers schwäbischer Abstammung, des berühmt-berüchtigten Arztes und „Goldmachers“ Paracelsus (1493 – 1541). Die Mutter Meinrad Lienerts war eine geborene Ochsner aus Euthal. Deren Familie galt damals irrtümlicherweise als mit dem weltberühmten Alchemisten verwandt. Lienert hat seinen „Urvetter“ mit „Der Hexenmeister“ in den 1914 erschienenen „Schweizer Sagen und Heldengeschichten“ populär gemacht.
Der Text ist – mit anderen - soeben in der Kurzfassung „Talgenossen“ (SJW-Heft 2496) neu greifbar geworden. Als liebevoll gestalteter Privatdruck ist zum Jubiläumsjahr, herausgegeben von Apotheker Albert Kälin (Einsiedeln), zusätzlich die Anthologie „Paracelsus in den Schriften von Meinrad Lienert“ erschienen. Für wie bedeutsam man heute gerade diesen Gesichtspunkt des Erzählers Lienert hält, unterstreicht das französische SJW-Heft (Bd. 1498) „Le sorcier“, der Hexenmeister, im Schuljahr 2014/15 der Westschweizer Schuljugend zugänglich gemacht. Dank schlichtem Fabulieren sind diese Texte heute noch lesbar, so die Erzählung „Der Bauer und der Nekromant“. Lienert schliesst sich an Einsiedler mündliche Überlieferungen an. Als Quelle setzte er dabei auf Pater Gall Morell, den Verfasser von „Der Franzos im Jbrig“. Die Bezüge zu Paracelsus lagen Lienert umso näher, als seine Familie in der „Bodmeren“ am Etzel über ein Alpheimet verfügte. Darüber schreibt er:
Meine Kinderzeit erlebte ich im abseitigen Tal der Alp, das im Sommer von Glockenjubel und Pilgerscharen so belebt und im Winter so wundervoll sonnig und still war. (…) Und obwohl wir im niederen Tätschhäuschen unseres Gutes nur dünne Mehl- und Brotsuppen, Milchkaffee und Erdäpfel auf dem Tisch hatten, gefiel mir’s dabei doch besser als im räumlichen Dorfhause. (Hensler, Bd. II, S. 10f.)
Paracelsus bekennt in seiner Kärntner Autobiographie „nicht mit Feigen und Rebhühnern, nur mit Milch, Käs und Haferbrot“ aufgewachsen zu sein. Dies genau in der Gegend, die Lienert oben schildert. In der faszinierenden Geschichte vom „Hexenmeister“, bei der sich Lienert statt auf die Urquelle Pater Michael Schlageter auf den berühmten Pater Gall Morell beruft, findet sich das unvergessliche Motiv vom mit Kreide gemalten Bild eines Feindes, auf welches mit einem Pfeil geschossen wird. Da fällt dieser „im gleichen Augenblick tot zu Boden“. Eine unvergleichliche und didaktisch gelungene erzählerische Einführung in die Bildmagie.
Der Berner Mundartprofessor Otto von Greyerz (1863 - 1940), selber Mundartschriftsteller, der sonst fast nur Rudolf von Tavels Berndeutsch und Josef Reinharts Solothurner Dialekt als mundartliche Literatursprache gelten liess, bescheinigte der Poesie von Lienert, darin sei „die ganze Natur- und Volkskunde des Schwyzerländchens aufgespeichert: Heilige und Hexen, Kinderspiel, Geissenhüten und Maienpfeifenschneiden, Blustfahrt im Mai, lustige Kilbi- und Fasnachtszeiten, Becherlupfen mit Sang und Tanz, Hochzeit und erste Elternfreuden, Weihnachtszeit mit Samichlaus und Silvester“. Dazu das Volksleben der Korber, Stromer, Turpner (Torfstecher), ferner Pfeifer und Handörgeler, die Bruderschaft der Spielleute, die ganze röischi wildi Kumpäny der alten Schwyzer. Zum Hauptmotiv im Schaffen Lienerts wurde das „Schwäbelpfyffli“, Titel eines mehrbändigen Werks, das von Einsiedelns Lienert-Stiftung 1991 wieder aufgelegt wurde. (Herausgeber: Walter Haas und Bernadette Kathriner.)
Unter dem „Schwäbelpfyffli“, eigentlich Schwägelpfyffli, kurz „Schwägle“ genannt, verstanden die Schwyzer die Querpfeife, die an der Spitze ihrer Fähnlein geblasen wurde. Ein gewaltiges Thema ist bei Lienert die Schlacht bei Marignano. Was versteht man schon davon ohne den Einsiedler Hauptmann und Schwyzer Landammann Uoli Chätzi? Gemäss Lienert soll dieser vor dem Mailänder Feldzug gewarnt haben. Nachzulesen im Erzählband „Von Lieb und Leid. Schwyzer Geschichten“, u.a.1943 bei Huber in Frauenfeld und sogar in Leipzig erschienen. Für das Marignano-Verständnis in der Innerschweiz darf Lienerts Erzählung „Die Getreuen“ als repräsentativ gelten. Es geht um die Schicksale der in den Totenbüchern registrierten 175 Talgenossen, repräsentiert durch Schmied Heini Tätsch, den Holzflösser Thysel Tüss und den Bauern Uoli Schrott. Für Lienert, Mitglied des Historischen Vereins der 5 Orte, war Geschichtsbewusstsein weniger patriotisch als existentiell, fast so etwas wie ein Bestandteil der Bergluft. Die Niederlagen in Marignano 1515 und in Einsiedeln 1798/99 wurden für den Schwyzer wichtiger als Morgarten und Sempach, weil es ihm wie seinem Förderer Carl Spitteler um schweizerische Selbstbescheidung zu tun war.
Lienerts Gedichte, zum Beispiel „O Schwyzerland“, enthalten sich hurrapatriotischer Klänge: O Schwyzerland! Und stell di jetzt wie d’wit/ Es chunnt ä nagelnüi Zyt/Si hät ä andre Schrit/Und nimt is weidli mit. Im Gegensatz zu Huggenberger, dem Kritiker der Mähmaschine, stellte sich Lienert auch in seinen alten Tagen nicht gegen den industriellen Fortschritt. Ein epochales Bekenntnis zur neuen Zeit wurde sein Einweihungsgedicht zum Sihlsee-Kraftwerk. Der Blick des liberalkonservativen Heimatschriftstellers war nach vorwärts gerichtet. Dennoch war er sich bewusst, was abgesehen von dem, was davon später noch erzählt wird, für immer verschwindet. In einem Lebenslauf für die Volksbücher des „Deutschschweizerischen Sprachvereins“ (Paul Suter: Meinrad Lienert. Volksbücher des Deutschschweizerischen Sprachvereins, Heft 1, 1918) bekennt er:
Das alte Bodmernhäuschen ist längst zusammengestürzt und ich sitze jetzt am Zürichberg und dichte und sinne darüber, wie ich den Mitmenschen doch so wenig geben konnte, wie das Leben so kurz ist und alle Ruheporte so weit. (…). Und ich hebe meine besonnte und verschattete Hand, schreibe an meinem Tagwerk und schicke mich getrosten Herzens in den Willen Gottes.
Was kann ein Schwyzer, der schreibt, heisse er Meinrad Inglin oder Gertrud Leutenegger oder gar Paracelsus, in diesem Sinn mehr sagen als der gute Meinrad Lienert? Dass er kaum je überschätzt wurde, könnte ein Grund mehr sein, ihn auch in Zukunft zu schätzen. „Üserherrged“, wie Meinrad Lienert seinen Allerhöchsten vertraulich nennt, war wohl nicht bloss Franzose oder Brasilianer, sondern gemäss Lienerts volkstümlicher Ausdrucksweise ein waschechter Schwyzer.
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