Textatelier
BLOG vom: 13.04.2018

Essays „Nach der Natur“ (3): Erde

Autor: Wernfried Hübschmann, Schriftsteller, Hausen i. Wiesental (D)


In den diesen Wochen veröffentlicht der Schriftsteller Wernfried Hübschmann unter dem Titel „Nach der Natur“ vier literarische Essays zu den vier Elementen. Den Anfang machten die Essays WASSER und LUFT. Heute fahren wir fort mit dem Essay ERDE.

Essay Erde

Von der Erde zu sprechen, ist so schwer wie die Erde selbst, so lehmig und lastend, denn es ist ja nicht vom Staub die Rede oder vom Sand, den es in allen Schattierungen und Granulierungen gibt, je nach Herkunft und mineralischen Beimischungen und Färbungen, und der Staub, so sehr er über dem Boden, ähnlich dem Flugsand, eine schwebende Schicht bildet, in den Wüsten oder in den schmutzigen Städten, dieser Staub ist doch scheinbar nicht mehr als die müde Metapher des Alten Testaments, die uns anzeigen will, woraus wir gemacht und wozu wir bestimmt sind.

Einmal, als sein Bewusstsein den Rubikon schon deutlich überschritten hatte, er war etwa vierzehn Jahre alt, hatte er diesen Staub berührt, diesen luftigen Bruder der Erde, mit den eigenen Händen, und er erschrak vor dem, was er sah, spürte und in die Luft wirbeln sah, denn es war die Asche eines Menschen. Die sehr alte, sehr geliebte, verbliebene Grosstante Luise, genannt Lu, wohnhaft in Potsdam-Babelsberg, also in jenem anderen Deutschland, das damals grau und gemächlich und schwer atmete, war gestorben, und wie schon ihre beiden Schwestern, die andere Grosstante also, etwas mürrisch meistens und altjüngferlich, und seine Grossmutter, die Mutter seines Vaters, sollte ihre Urne bei uns im Familiengrab bestattet werden, an einem sanften Ort bei Regensburg, inmitten der Burgruine. Dort waren erst nach dem Kriege, mitten im erzkatholischen Bayern, erste Gräber für die Protestanten angelegt worden, mit denen niemand gerechnet hatte, und die nun als Heimatvertriebene sich niederliessen und Wurzeln schlagen wollten. Unser Grab war überhaupt erst das dritte, unweit des ausgetrockneten Brunnens hinter einer Hainbuchenhecke, überwölbt von einer Trauerweide.

Die Urne kam, seltsam genug, per Paketpost, war umschlossen von einem kräftigen grauen Karton, und sein Vater hatte den Gemeindearbeiter gebeten, die Grablege vorzubereiten, hatte ihm die passende Stelle gezeigt, und so bewegte sich an einem trüben Nachmittag im Herbst eine kleine, stille Prozession hinauf zum Burgberg und hinein in den inzwischen um viele Gräber reicheren Garten. Wie es dazu kam, dass er als Jüngster dazu ausersehen war, auf dem letzten, sanft ansteigenden  Wegstück, vorbei am riesigen Holzkreuz, das bauchige Gefäss tragen sollte, liegt im Dunkel. Die Szene war feierlich, und er war angespannt mit dieser kostbaren Last zwischen den Händen. Vielleicht drückte er zu fest, sodass der Deckel aufsprang, vielleicht war er gestolpert, jedenfalls lag der messingfarbene Verschluss mit den gekreuzten Palmzweigen plötzlich am Boden, und da es windig war und er sich vor Schreck ein wenig gebückt hatte, flogen einige Staubfahnen durch die Luft, winzige Knochenstückchen wurden sichtbar, und das Entsetzen war allgemein und gewann keinen sprachlichen Ausdruck. Alles geschah hastig und stumm.

Schnell war das Gefäss wieder verschlossen. Die schmucklose Zeremonie nahm ihren Verlauf, nein, es wurde keine Rede gehalten, kein Lied gesungen, und es war kein Priester oder Pastor zugegen. Sowenig wie bei jener anderen Beerdigung, von der er wenig später durch Erzählungen erfuhr. Lu hatte ihren Verlobten im Ersten Krieg verloren, dann spät doch noch geheiratet, zu spät, um Kinder zu bekommen, und Onkel Eduard, genannt Ed, und sie waren am Ende des Zweiten Krieges beide fast schon siebzig. Der grässliche Sturm hatte alles hinweggefegt, was ihnen lieb und teuer war, die Russen rückten näher, die Lage war aussichtslos, Januar 1945. Beide entschieden, so geht die Erzählung, aus dem Leben zu gehen, schnitten sich die Pulsadern auf, umarmten sich und erwarteten das Ende. Doch sie wurden entdeckt und Tante Lu wurde zurückgeholt in dieses elende Leben und musste nun Abschied nehmen von ihrem Mann. Die Erde war hart gefroren, und so zerrte sie ihn auf eine Karre, suchte einen Baum in diesem Park mitten in Danzig, und mit allerletzter Kraft scharrte und kratzte sie mit blossen Händen ein wenig den Boden auf, das steife, klirrend-kalte Gras, und deckte ihn mit Zeitungspapier zu und ging, von einer Nachbarin mitgeschleift, in namenloser Trauer, auf die Flucht. So etwa, so ähnlich muss es gewesen sein.

Die Erde ist nicht nur ein Acker, ein Wald, ein Beet, eine Wiese, ein Sportplatz, ein Hang oder Hügel. Die Erde ist vor allem das, wovon die Schwerkraft ausgeht, die uns festhält und irgendwann wieder aufnimmt, als wären wir vom Baum gefallen wie reife, überreife Früchte, ungeniessbar, zu schwer. Die Erde öffnet sich an vielen Stellen und gibt manchmal Blicke frei in eine Höhle hinein, aus einer Höhle heraus. So, wenn man die Gebirge hinzudenkt, wird es schon leichter, von der Erde zu sprechen.

Die Erinnerung selbst ist der Schacht, in den man hinuntersteigen muss, er ist kaum befestigt, und man muss graben und schürfen und sich die Hände zerkratzen und schwärzen im Bergwerk, wenn man etwas zu Tage fördern will, das mehr ist als eine dürre Vorstellung der Vergangenheit, sondern etwas Lebendiges, wieder Vergegenwärtigtes, das so erzählt werden kann, dass es uns heute vor Augen steht und uns jetzt in Bann schlägt und die zerklüftete Zeit überspringt.

www.wernfried-huebschmann.de

Essays „Nach der Natur“ von Wernfried Hübschmann
15.03.2018: Essays „Nach der Natur“ (2): Luft
08.02.2018: Essays „Nach der Natur“ (1): Wasser

 


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