Textatelier
BLOG vom: 03.01.2017

Schau dich an!

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


“Sei behutsam, dränge nicht – gedulde ... Zerschmettere nicht das Gefäss, worin du deine Hoffnung birgst. Einmal wäre es dir beinahe entglitten und auf den Fliesen zerschellt. Sprünge hat es wohl abbekommen, der Krug; Fleckchen sind auf dem einst blanken Porzellan, die keine Lauge wegwäscht. Auch Splitterchen sind weggeschlagen. Aber noch rinnt der Krug nicht. Und das ist ein Wunder! Einen zweiten gibt dir der allmächtige Töpfer nicht. Sei behutsam.”

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Daniel klappte das Heft zu, stand auf und trat zum Spiegel über dem Kaminsims, wo er seine Arme aufstützte und sich anschaute.
'Man würde es mir nicht ansehen', dachte er, 'aber man sieht es auch der Welt voller Übel und deinen Mitmenschen nicht an.'

Liest sich denn nichts aus Mimik und Augen, Iris und Pupille, zusammengekniffenen Lidern? Wie oft du auch zwinkerst, sie waschen nicht rein, was du gesehen hast oder geschehen liessest. Dein Schweigen ist beredt, darum breche es, damit du wieder Schweigen kannst. Denke an die hässlichen Worte, die dir entschlüpft sind aus Zorn, Bosheit oder Unbedacht. Damit hast du gezielt und getroffen. Aus den Augen konntest du lesen, wie deine Hiebe sassen. Du hast selbst erfahren, wie böse Worte schmecken.

Einmal blicktest du in ein Augenpaar – Blicke, die sich fanden und verstanden, ineinander sanken. Einmal bohrte sich dein Blick anklagend in dasselbe Augenpaar, und dein Trotz und Zorn schlugen wie Blitze ein. Einmal waren deine Augen feucht mit Mitleid; du tatest dir sehr leid. 'Willst du mich denn gar nicht verstehen', flehtest du mit tränenfeuchtem Blick. 'Bist auch du hart und ungerecht mit mir?' Und einmal vermochte kein Blick sie mehr erreichen. Es war ein Abschied ohne Wiedersehen. Ihr gabst du die Schuld und hast sie dabei ohne zu wissen dir selbst aufgebürdet. Kannst du diesen Erinnerungen ausweichen, sie einfach vergessen? Sie im Verliess totgeschwiegener Empfindungen werfen? Es gibt kein Kerkermeister, der sie zeitlebens bewacht. Einmal werden sie entkommen und dich finden.

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Wer meisselt immerfort am Menschen? Die Bruchstücke, sie fliegen weg mit der Unschuld zuerst, gefolgt vom Glauben und tausend Hoffnungssplittern. Dann her mit dem Kitt und Gips. Die Breschen und Löcher am Torso werden billig ausgebessert. Man vertuscht die Verluste. Der äussere Anschein ersetzt bald alles. Das mag täuschen während zehn Jahren, vielleicht gar ein ganzes Leben lang – immer so lange, als das Schweigen währt. Aber dazu musst du vor dir selber fliehen. Doch dein Schweigen verfolgt dich wie ein Schatten. Je länger du dich ausschweigst, desto härter wirst du, und desto gefährdeter. Den härtesten Felsen bezwingt das Wasser. Tau und Frost brechen ihn und dich.

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Glaubt David noch immer, keiner würde ihm all das anmerken, sein verborgenes Schamgefühl? Streue Fragen, und sammle Antworten. Antworten, die deine Scham tilgen. Solche Fragen und Antworten sind die Sprossen, die in die Tiefe führen. Hat man deren Mitte überschritten, verwechselt man leicht, was unten und was oben ist. Das erklärt nur teilweise, weshalb so wenige wieder zur Oberfläche der Erkenntnis auftauchen. (Andere Gründe gesellen sich hinzu, die hier den Rahmen dieses Textes sprengen würden.)

Das Leben ohne Brechreiz will gelernt sein. Deshalb schaue dich hin und wieder fragend an und spreche dein Schweigen aus, damit du wieder schweigen kannst.

(Im Dezember 1966 verfasst)

 


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