Textatelier
BLOG vom: 01.11.2016

Toter Manager Wauthier und kein Ende

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 


Pierre Wauthier
 

Im Sommer 2013 erregten Freitode zweier prominenter Schweizer Top-Manager Aufsehen. Zunächst Swisscom-Chef Carsten Schloter, der in der Kathedrale von Freiburg im Üechtland abgedankt wurde, kurz darauf Pierre Wauthier, Finanz-Chef der Zürich-Versicherung. Über das Schicksal des letzteren bringt die Fernsehanstalt ARD am 2. November 2016 einen Dokumentarfilm. Gemäss der Losung, dass man mit Toten nicht diskutieren könne und diesen gewissermassen Recht zu geben sei, räumte dann bei der Zürich auch Bankier Josef Ackermann seinen Chefsessel. Später untersuchte die Finanzmarktaufsicht (Finma) den Fall. Das Ergebnis: Die Zurich habe keinen «unangemessenen Druck» auf Wauthier ausgeübt. Die Familie akzeptierte das nicht. Laut der Boulevard-Zeitung BLICK geht sie nun offenbar mit dem Dok-Film in die Offensive.

Josef Ackermann, der ehemalige Chef der Deutschen Bank, kam 2012 zur Zurich. Laut ARD beklagte sich Wauthier bei seiner Frau Fabienne, dass Ackermann der Versicherung die Philosophie ­einer Bank überstülpe. Es kommt zu zahlreichen Wechseln in der Zurich-Chefetage. Wauthier bleibt, er ist mit Leib und Seele Finanzchef, will nicht einfach so aufgeben. Kollegen bezeichnen ihn als extrem gewissenhaft, perfektionistisch und pflichtbewusst.Wauthier kommt aber immer weniger mit Ackermanns Philosophie zurecht. Von seinen Differenzen mit dem VR-Präsidenten erzählt er aber nur der Familie und engsten Freunden. Der Druck muss enorm gewesen sein. In der Woche vor seinem Freitod absolvierte Wauthier 16 Meetings in zwei Tagen – an unterschiedlichen Orten. Im Sommer 2013 eskaliert der Konflikt zwischen Ackermann und Wauthier. Vor der Veröffentlichung der Halbjahreszahlen geraten die beiden offenbar aneinander. Laut dem Dok-Film ging es darum, wie man die Investoren über die Geschäftsentwicklung informieren solle. Eine Lappalie. Es soll um wenige Formulierungen gegangen sein. Bei der Präsentation der Zahlen liess sich der zweifache Fami­lienvater nichts anmerken. Elf Tage später war er tot.

Anschliessend mein Porträt von Pierre Wauthier, das anfangs September 2013 in www.portal-der-erinnerung.de erstmals veröffentlicht wurde. Auch im Textatelier wurde der Fall aufgegriffen, und zwar mit der Titelfrage: Eine Epoche in der Geschichte des Suizids?

Pierre Wauthier, geboren 1960 in Frankreich, britisch-französischer Doppelbürger, erhängt aufgefunden am 26. August 2013 in Walchwil am Zugersee, Kanton Zug, einer der zugleich schönsten und erst noch steuergünstigen Gemeinden Europas, galt mit einer ihm nachgesagten Honorierung zwischen 3 und 5 Millionen Franken jährlich global als einer der besten Finanzchefs. In dieser Richtung äusserte sich Martin Senn, Chief Executive Officer des Konzerns Zürich Versicherungen (Zurich Global Corporate Switzerland).

Demgegenüber vermitteln Fotos der von ihm aufgekauften historischen Liegenschaft zum Löwen in Walchwil, derzeit im Umbau begriffen, von aussen gesehen einen, gelinde gesagt, unfertigen Eindruck, symbolisch für ungelöste Probleme, die wohl auch für den zweiten aufsehenerregenden Suizid eines Schweizer Topmanagers innerhalb weniger als zwei Monaten repräsentativ erscheinen. Dabei wurde dem verstorbenen Pierre Wauthier ähnlich wie Carsten Schloter nebst ungewöhnlichen Fähigkeiten hohe Sensibilität attestiert so wie man ihm beachtliche Kommunikationsfähigkeiten nachsagte. Andererseits erscheint die Kommunikation, wie einer ersten, durchaus vorsichtigen Hintergrundanalyse des Fachmanns Klaus J. Stoehlker zu entnehmen ist, in neuester Zeit als ein absolutes Hauptproblem der Zürich Versicherungen, als deren bedeutendster Top-Manager Josef Ackermann, vormals Chef der Deutschen Bank, aufgrund von im Abschiedsbrief erhobenen Vorwürfen umgehend den Hut nahm. Dies will Ackermann jedoch nicht als Schuldeingeständnis gelten lassen. Gegen einen Toten habe man immer Unrecht, liess er verlauten. Dies wurde dem bekanntesten Schweizer Grossmanager jedoch nicht allenthalben abgenommen. Solche Konstellationen hat auch Urs Widmer mit seinem bedeutendsten Drama, dem Bankier-Stück „Top Dogs“, dargestellt, wobei jedoch die Realität, wie bei Orwell, die Dichtung regelmässig noch überholt.

Wie sehr Stoehlker mit dem Hinweis auf die krisenhafte Kommunikation, zunächst nach innen, dann aber auch nach aussen, recht bekommen hat, zeigt die am 02.09.2013 bekannt gewordene Schilderung einer der Meinungsverschiedenheiten zwischen Wauthier und Ackermann. Es ging darum, wie weit man über das Erreichte und Nicht-Erreichte der Jahresziele seit 2010 informieren sollte und wie weit nicht. Wauthier scheint für eine defensive Kommunikation plädiert zu haben, Ackermann hingegen wollte offenbar die nicht erfüllten Erwartungen vergleichsweise ungeschützt an die Öffentlichkeit bringen. Im Fussball und im oberen Management hat letzteres bekanntlich sehr schnell Konsequenzen, selbst wenn Josef Ackermann sicher nicht mit dem Präsidenten des FC Sion zu verwechseln ist. Man einigte sich nach einem mutmasslich nicht herrschaftsfreien Diskurs auf den folgenden Satz: „Die Gruppe richtet ihr Hauptaugenmerk weiterhin auf ihre 2010 gesetzten Drei-Jahres-Ziele und ist auf gutem Weg, einige davon – wie die für Global Life und die Kosteneinsparungen – zu erreichen, während andere – wie die für General Insurance und Farmers – eine Herausforderung sind.“ Sollte es stimmen, dass Sätze dieser Art einschliesslich mit allem, was damit nicht gesagt oder wie in bekannten Industriezeugnissen bloss umschrieben oder angedeutet wird, dann war diese Szene offenbar brutaler beziehungsweise tödlicher als alles, was unsere Schriftsteller auf die Bühne zu bringen vermochten. Diese Feststellung ist nicht mit einer Verurteilung lebender bzw. toter Personen zu verwechseln.

Wauthier stiess 1996 zur Zürich-Gruppe und wurde 2011 zum Finanzchef ernannt. Der französisch-britische Doppelbürger war 53 Jahre alt. Seine berufliche Karriere startete er 1982 bei KPMG, danach arbeitete er für das französische Aussenministerium. Die Finanzlaufbahn begann er bei der Bank J. P. Morgan in London. Stärker als Spekulationen fällt das Bekenntnis von Zürich-CEO Martin Senn ins Gewicht:„Zunächst möchte ich der Familie von Pierre Wauthier mein Beileid aussprechen. Er war eine hoch geschätzte Persönlichkeit, und vor allem war er ein wunderbarer Mensch. Sein Ableben ist ein grosser Verlust für uns. Weniger als eine Woche vor seinem Ableben war ich mit Pierre Wauthier zwei Tage lang in London unterwegs, um Präsentationen vor Investoren abzuhalten. Einmal mehr leistete er dabei hervorragende Arbeit, ich habe ihn dafür gelobt. Pierre wirkte topfit. Ich habe nichts festgestellt, was auf irgendwelche Probleme hätte hindeuten können. Er war hoch kompetent, bei Investoren anerkannt, galt global laut Umfragen als einer der besten Finanzchefs. Und er war äusserst integer. Ich erhalte unzählige E-Mails und Briefe von Mitarbeitenden, Kunden, Konkurrenten und Analysten aus der ganzen Welt. Pierre war bescheiden und hat sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentriert. Darum war er in der Öffentlichkeit wenig bekannt.“

Für die Glaubwürdigkeit fast noch wichtiger scheint mir das Zeugnis einer Mitarbeiterin der unteren Etage der Zürich-Hierarchie. Die Angestellte bekannte der Zeitung „Blick“ per Blog:„Ich habe Pierre persönlich gekannt und für ihn gearbeitet. Diejenigen, die hier nur spekulieren, sollten bitte damit aufhören! Er war ein unglaublich intelligenter, fairer, sensibler und liebevoller Mensch. Auch absolut loyal und ehrlich seiner Firma und seinem Umfeld gegenüber. Er hat stets mehr als die vollste Leistung erbracht, wahnsinnig viel gearbeitet und sich selber und seine Familie stets für die Arbeit zurückgestellt. Ich bin sehr traurig, dass ein so wundervoller Mensch gegangen ist.“

Eines der letzten Fotos der Führungsriege der Zürich mit Wauthier am Rednerpult sowie Martin Senn und Josef Ackermann als Zuhörenden zeigt den Referenten physiognomisch und generell im psychophysischen Auftritt als beinahe extrem fein und „feinsinnig“, wie er in der Todesanzeige der Firma genannt wurde. Wohl zu feinsinnig. Es ist selten und im Prinzip zu kritisieren, dass Abschiedsbriefe öffentlich werden, und noch seltener, dass mögliche Vorwürfe auf höchstem internem Niveau vergleichbare Konsequenzen wie jetzt den Rücktritt des einstigen Giganten Joe Ackermann haben. Insofern deutet die Episode im zugerischen Walchwil, der Heimat von Zugs Dichter Thomas Hürlimann, eine „Epoche“, eine Wende, in der Geschichte des Todes und ganz besonders in der Geschichte des Suizids an. Das Beispiel, wiewohl aus der Sicht des Kommunikationsberaters nebst der persönlichen Tragik vor allem Ausdruck katastrophaler Kommunikation innerhalb einer Grossfirma, könnte in Lehrbücher der Ethik eingehen.

Für die Kulturgeschichte des Kantons Zug und der Schweizerischen Eidgenossenschaft bleibt wichtig, dass Pierre Wauthier in Walchwil, wo er seit fünf Jahren lebte, beim „Volk“ ähnlich unbekannt war wie im Luzerner Steuerparadies Meggen LU der vor drei Monaten verstorbene, praktisch nur einem Coiffeur persönlich bekannte Multimilliardär Marc Rich. Immerhin liess sich Wauthiers Gattin dann und wann im Dorf blicken. Demgegenüber hatte der legendäre Patron und Industriepionier Walter Boveri (1894–1972) in Baden noch im Männerchor gesungen und gehörte mit seinem legendären Velo englischer Bauart zum Stadtbild der Bäderstadt. Kulturhistorisch markiert dieser Befund einen riesigen Unterschied, und man ist, selbst ohne Neigung zum Moralisieren, geneigt, von sozialer Desintegration zu sprechen. Noch der Unternehmer Andreas C. Brunner (1923–1988) von Landis & Gyr war, unbeschadet seiner Abwahl aus dem Nationalrat vor mehr als 40 Jahren, ein volkstümlicher Patron und ein präsenter leibhaftiger Vertreter des „Kapitalismus“ im Kanton Zug.
Pierre Wauthier aber ist die Ruhe, die er in einem dramatischen Augenblick seines Lebens nicht mehr finden konnte, dringend zu gönnen. Auf dem Friedhof von Walchwil, wohl kaum seine letzte Ruhestätte, blühen und wachsen nicht nur Seerosen. Der denkwürdigste Grabstein bildet einen „Trumpf Buur“ ab mit einer Rose in der Hand, die Karte, die alles absticht. Die Frage ist, wer hier der Verlierer bleibt und wer der Sieger.

 
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