München, meine Heimatstadt
Autorin: Susan Casadei
So, jetzt muss ich doch noch einmal zurück nach München gehen. Die Nachkriegsjahre in der grösstenteils zerbombten Stadt München sind schon noch erzählenswert. Gleich nach dem Krieg ging es ans wieder aufbauen. Wir hatten das grosse Glück, noch unsere eigene Wohnung zu besitzen und der kleine Laden unserer Mutter sowie das Gartengrundstück hinter dem Haus sorgten für unser leibliches Wohl. Das ging beileibe nicht allen Menschen so, in dieser schwierigen Zeit. Ehemänner kamen mit Traumatas aus dem Krieg zurück, die Frauen mussten sich erst wieder an diesen veränderten Mann gewöhnen. Viele Menschen litten Hunger und unsere Mutti sorgte oft kostenlos mit ihren Schätzen aus dem Laden für hungernde Freunde und Nachbarn. Sie gründete ein wöchentliches Kaffee-Kränzchen, bei dem immer wechselnde eifrige Damen unsere Strümpfe stopften und dabei relativ feine Sachen aus Mutters "Konditorei" essen durften. Diese Stückchen waren nicht wirklich lecker. Trockenei und Milchpulver sowie künstlicher Zucker etc. waren die Grundlage für die cremigen Füllungen. Aber alles wurde mit Hochgenuss gelöffelt und wir hatten wieder ganze Strümpfe und Kleider.
Dann 1948 kam die Währungsreform. Am Vortag, vor dem grossen Aus für die R-Mark, gingen meine Schwester und ich von Eisdiele zu Eisdiele. Wir hatten einen 10 RM-Schein dabei, aber wenn wir zwei schöne Eisbecher kauften, mussten wir nicht bezahlen, sondern bekamen für unsere RM-Scheine noch neue dazu. Ich weiss nicht mehr, wieviel Eis wir damals geschleckt haben und ob es uns dann am Ende so richtig schlecht wurde. Ich weiss nur noch, dass ich dann mehrere Jahre keine geschlagene Sahne mehr essen mochte. Am darauffolgenden Tag erhielt dann jede Person, egal ob Erwachsene oder Kinder, DM 48.-- und damit musste dann der Lebensunterhalt zuerst einmal bestritten werden. Natürlich bekam man dann nachher Lohn und Einkünfte aus dem Ladenverkauf in DM, aber es lief recht langsam an, bis man wieder ein einigermassen vernünftiges Einkommen hatte, mit dem man weiterwursteln konnte. Mit 3 kleinen Kindern war das auch für unsere Eltern nicht so ganz einfach. Mein Vater kam aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück. Er war psychisch und physisch sehr angeschlagen und sein Hass auf die Amerikaner war sicher verständlich. Dabei war diese Besatzungsmacht noch die beste, die man erwischen konnte. Die Soldaten standen unter starker Kontrolle und Vergewaltigungen und gross angelegte Plünderungen kamen Gott sei Dank nicht vor. Wir Kinder bekamen bei einigem Geschick, wie ich es an den Tag legte, bekamen Orangen und Schokolade und Bananen fast täglich geschenkt. Und es waren -zumindest so weit ich das erlebt habe, keine Hintergedanken dabei. Viele Soldaten waren einfach auch froh, dass der Krieg zu Ende war und wollten zumindest zu den Kindern nur freundlich sein.
Langsam wurde auch die Innenstadt von München wieder aufgebaut und auch rundherum bekamen die neuen und die sanierten Gebäude ein neues, nicht immer schönes Gesicht. Später fragten die Nachkommen dann, warum manche Städte so hässlich wieder aufgebaut worden sind. Aber es musste rasch gehen, da ja dringend Wohnraum gebraucht wurde, und Geld war nur wenig vorhanden. So kann man sich die "Plattenbauten" dann besser erklären, aber schön waren sie nicht und stehen doch oft bis heute noch. Aber es ging aufwärts und ich sage oft und gerne dass wir, die Kriegs- und Nachkriegskinder eine privilegierte Schicht darstellen. Es ging immer nur vorwärts, es wurde besser und besser und bis heute konnten wir uns glücklich preisen, keinen weiteren Krieg in Europa erlebt zu haben. Wenn ich da an meine Eltern denke: Geboren vor dem 1. Weltkrieg, Geldabwertung, Inflationen, schlechte Zeiten nach dem 1. Weltkrieg, 2. Weltkrieg, wieder alles verloren und wieder viel Elend und Hunger erlebt. Da kann man nur den Hut ziehen, über die Kraft und den Mut, die unsere Eltern aufbringen mussten. Kein Wunder, dass mein Vater schon mit 62 Jahren und meine Mutter mit 72 Jahren verstarben. Da war vielleicht einfach die Kraft aufgebraucht.
Ich hätte sicher gerne studieren wollen, aber da das Geld doch sehr knapp war, haben wir beiden Schwestern es dann doch vorgezogen und sind nach der Mittleren Reife und mit guter kaufmännischer Ausbildung von der Handelsschule direkt ins Berufsleben übergegangen. Ich habe es manchmal ein bisschen bereut, aber eigentlich hat mir mein Leben als Sekretärin und Assistentin doch auch Spass gemacht. Ich hatte dadurch die Möglichkeit des öfteren die Stellung zu wechseln, wenn es mir langweilig wurde. Landesentschädigungsamt, Süddeutsche Zeitung, Auslandaufenthalt, Werbegesellschaft, TOTAL Deutschland, Oldenburg Verlag - das waren meine Stationen vor der Übersiedlung in die Schweiz.
Am meisten Spass gemacht hat mir doch immer das Verlagswesen, Zeitungen und Bücher waren mir immer wichtig und das Klima in diesen grossen Häusern hat mir auch immer sehr gefallen. Ich habe mich neuen Herausforderungen gerne gestellt und gute Freundschaften aus all diesen Tätigkeiten oft bis heute noch aufrecht erhalten. Es war ein fröhliches Leben zu dieser Zeit in München. In den kleinen Schwabinger Kneipen waren Jazz-Grössen aus aller Welt anzutreffen und auch ein munteres Künstlervölkchen tummelte sich in den Restaurants. Theater und Oper waren langsam wieder im Aufwind und ich hatte viele Jahre hindurch ein Theater- und Opern-Abonnement und von diesen Aufführungen zehre ich heute noch.
Es gab Party's und Faschings-Feste in allen Schattierungen. Da ich viele Freunde hatte war ich auch an so mancher Studentenfete anzutreffen. Es gab manchmal nur eine Badewanne voll Nudelsalat und die Getränke musste man sich oft vom Mund absparen, aber das hat unserer Fröhlichkeit keinen Abbruch getan. im Hahnhof in Schwabing konnte man zu einem Viertel Weisswein dann gratis soviel Brot bekommen wie man wollte. Das haben die Studenten weidlich ausgenützt und wir sassen in feuchtfröhlicher Runde viele Nächte an langen Tischen und palaverten über Gott und die Welt. Wenn ich an den Aufwand denke, der heute meistens bei Einladungen getrieben wird, dann erinnere ich mich bei den Hahnhof-Abenden gerne daran, dass die Gespräche interessanter waren als das Essen. Heute hingegen ist es oft umgekehrt. Auf jeden Fall bin ich mir ganz sicher, dass es uns gut getan hat, nicht immer aus dem Vollen schöpfen zu können. Man weiss die guten Zeiten, die folgten, um so mehr zu schätzen und darüber bin ich glücklich.
Auch in den Firmen herrschte eine andere Kultur. Man kümmerte sich noch um die Mitarbeiter und sorgte sich um das Wohlergehen der Belegschaft. In der Süddeutschen Zeitung bekamen wir zum Beispiel jedes Wochenende einen VW-Bus mit Chauffeur zur Verfügung gestellt und es konnte somit immer ein kleines Grüppchen einen Sonntags-Ausflug machen, den man sich sonst ohne Auto nicht hätte leisten können. Meine Eltern hatten nie ein Auto und sind auch nur ein einziges Mal in die Ferien gefahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Sie erzählten uns immer wieder von Ihrer Schiffsreise auf der Hurtigroute bis zum Nordkapp. Die erste Ferienreise, meiner Schwester und mir, ging an den Gardasee und da waren wir auch schon 17 und 19 Jahre alt. Ich erinnere mich heute noch an diese einfache Unterkunft und wie wir es genossen haben, an einem schmalen, steinigen Strand am See liegen zu können. Auch in den folgenden Jahren konnten wir uns nur kurze Adria-Reisen leisten und kamen manchmal nur noch mit 10 Pfennigen in der Tasche wieder nach Hause. Alles in Allem erinnere ich mich an diese Zeit immer als eine glückliche Zeit, die ich nicht missen möchte.
Ich war damals das Maskottchen eines ganzen Semesters der Meisterschule in München, wozu ich durch die Verbindung mit der Süddeutschen Zeitung gekommen war. Ich kannte damals einen der Studenten, meinen guten Freund Otmar, der mich gefragt hat, ob ich nicht auf eine Studienreise nach Mailand mitkommen möchte. Eine sehr günstige Reise von 10 Tagen mit bescheidener Unterkunft und Essen in der Mensa der Universität Mailand. Ich sagte begeistert zu und war dann doch etwas schockiert, als ich zu Beginn der Reise dann plötzlich als einziges Mädchen mit im Zug sass. Die jungen Damen auf dem Bahnsteig hatten ihre Freunde nur zum Zug gebracht und sich dann verabschiedet. Da aber eine ganze Mannschaft Professoren mit dabei waren, wurde diese Reise sicher zur bestbewachten die ich je gemacht habe. Diese Gruppe von 98 jungen stattlichen Männern nannte sich "die 32-er", weil sie der 32. Jahrgang der Meisterschule waren. Unglaublicher Weise treffen wir uns, nach 53 Jahren, jetzt noch einmal im Jahr in irgend einer deutschen Stadt. Zu diesen Treffen kommen immer noch zwischen 40 und 50 Personen, jetzt natürlich mit den Ehefrauen, um zu plaudern, zu wandern und etwas Gutes zu essen. Leider sind nun halt auch immer wieder Verluste zu melden, denn diese damaligen Studenten sind nun fast alle über 80 geworden, da lichten sich die Reihen. Solche Freundschaften, glaube ich, entstehen eher aus Notzeiten, die enger als alles andere zusammenschweissen.
Aber als ich dann 1966 für immer in die Schweiz kam, da habe ich gesehen, wie angenehm es auch sein kann, keinen Krieg erlebt zu haben. Man denkt ja auch immer, wenn man von der Schweiz spricht, an Banken und Wohlstand. Natürlich hat auch die Schweiz ein kleines bisschen vom Krieg gespürt und auch in der Schweiz gibt es Armut. Aber das ist trotzdem alles wohl geordnet und beim Staat in guten Händen. Ich habe viele schöne Jahre in Basel verbracht und unser nun vermietetes Mehrfamilienhaus bindet uns noch immer an Freddy's Heimatstadt.
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