Textatelier
BLOG vom: 11.11.2014

Zitronen und „Sacro egoismo“: Italiens heiliger Eigennutz

Autor: Reynke de Vos, deutscher Historiker und Publizist, Wohnort: Wien
 
 
Wer sich auf das „Land, wo die Zitronen blüh’n“ (Goethe) verlässt, sieht sich alsbald hintergangen. Das zeigt die Vergangenheit, das bestätigt die Gegenwart.
 
Italien wechselte im Ersten Weltkrieg die Fronten, indem es sich vom Dreibund löste und auf der Seite der Entente (Frankreich, Britannien) gegen den verbliebenen Zweibund (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn) in den Krieg eintrat, was sein damaliger Regierungschef Antonio Salandra 1914 mit „Sacro egoismo“ („geheiligter Eigennutz“) begründete. Dafür erhielt es 1919 von Österreich („c’est ce qui reste“ nach Georges Clemenceau) nicht nur das südliche Tirol als Beute, sondern auch das Kanaltal und Teile des Miestals. Niemand schritt dagegen ein, dass es sich dann im Hinterland von Triest sowie in Istrien und an der dalmatinischen Küste festsetzte. Auch nicht, als der „Duce“ dem Königreich Italien Äthiopien, Albanien und Libyen zur Gänze einverleibte und mithilfe des „Führers“ 1941 Teile des SHS-Staates – das aus Slowenien, Kroatien und Serbien sowie Montenegro bestehende Königreich Jugoslawien – annektierte. Und wo der „Genio del Fascismo“ herrschte, wurde ökonomisch ausgebeutet und kulturell entnationalisiert, will sagen rücksichtslos „italianisiert“ (oder „re-italianisiert“, wie nach faschistischem Sprachgebrauch die Parole lautete).
 
Mit völliger Verblendung und „Volk-ohne-Raum“-Eroberungswahn ist es zu erklären, dass sich der Mann aus Braunau am Inn, der als „böhmischer Gefreiter“ während des ersten „Völkerringens“ die Unzuverlässigkeit dieses Seitenwechslers miterlebte, für den von ihm massgeblich vom Zaun gebrochenen zweiten weltumspannenden Krieg just Italien als Achsenpartner erwählte. Und selbst als die Wehrmacht überall dort zu Hilfe kommen musste, wo Benito Mussolinis Truppen unterlagen und zurückwichen – woraufhin die Alliierten vom Stiefelabsatz her gen Norden vordrangen – liess Adolf Hitler seinen Bundesgenossen, den der Faschistische Grossrat 1943 abgesetzt und inhaftiert hatte, befreien und in der bis April 1945 existierenden „Repubblica Sociale Italiana (di Salò)“ (RSI) als Satrap weiter „herrschen“. Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das „antifaschistisch-demokratische“ und republikanische Italien, in dessen Parlament Mussolinis Verehrer – vereint in der von Kämpfern der RSI unter Giorgio Almirante gegründeten neofaschistischen Partei „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) – sassen, als wäre nichts geschehen, Kriegsgewinner. Und damit reicht seine auf „sacro egoismo“ fussende politische Kontinuität bis in unsere Tage.
 
Davon zeugt nicht nur die Schuldzuschreibung der angeblichen Verantwortung Deutschlands für die finanz- und wirtschaftspolitische Misere des (Gründungsmitglieds und EU-Partner-)Landes durch Politik und Medien Italiens. Sondern gleichermassen das unlängst ergangene Urteil des römischen Verfassungsgerichtshofs, wonach italienische Opfer der deutschen Besatzungszeit (nach 1943) Deutschland auf Entschädigung verklagen können. Dies obwohl die vormalige Bundesrepublik auf der Grundlage eines Abkommens aus dem Jahre 1961 an Italien, das übrigens gemäss Friedensvertrag mit den Alliierten schon 1947 auf alle Reparationszahlungen verzichtet hatte, 40 Millionen Mark Entschädigung zahlte, eine Summe, die nach heutigem Wert ungefähr 200 Millionen Euro entspräche. Es wird die Vorstellung nicht abwegig sein, dass von dem seinerzeit in die Milliarden gehenden Lire-Betrag die „Opfer nationalsozialistischer Untaten“ kaum etwas sahen.
 
Verhandlungen über Entschädigungen könnten nur zwischen Staaten geführt werden, hiess es ausserdem im IGH-Richterspruch, der Italien zudem aufgegeben hatte, sicherzustellen, dass italienische Gerichte weder Urteile gegen Deutschland erliessen noch die völkerrechtswidrige Beschlagnahme oder Verpfändung deutschen Eigentums zuliessen, um Geldforderungen der Opfer durchzusetzen. Ein Schalk, wer annähme, dass römische Parlamentarier nicht sogleich den Verfassungsgerichtshof in der Absicht angerufen hätten, jenes Gesetz zur Umsetzung des Haager IGH-Urteils, an dessen Ausarbeitung sie mitwirkten, alsbald zu Fall zu bringen. Im Gegensatz etwa zu Polen und den aus der untergegangenen Sowjetunion hervorgegangenen Staaten, wohin Hitler seinen Eroberungskrieg trug und die infolgedessen unermessliche Opfer zu beklagen hatten (und haben), aber derart weitgehende Ansprüche gegen Deutschland nicht offiziell erhoben (und erheben), tut das dessen ehemaliger (Kriegs-) Verbündeter. Wider das Völkerrecht, dessen Grundsatz, kein Land dürfe über ein anderes zu Gericht sitzen, doch im Grunde just Italien sowohl ein hohes juristisches Gut, als auch ein zuträgliches internationales Ordnungsprinzip sein müsste.
 
Oder sollte es etwa auf zahllose Klagen aus Ländern erpicht sein, die das faschistische Italien einst selbst mit Gewaltherrschaft und Krieg(sverbrechen) überzog? Wie Äthiopien, wo die Führungsschicht und die Geistlichkeit nahezu ausgerottet wurden und Hunderttausende dem Gaskrieg zum Opfer fielen. Oder andere Länder und Gebiete in Nord- und Ostafrika, die ehedem zum italienischen Kolonialbesitz gehörten.
 
Kläger gegen Italien fänden sich auch auf dem Amselfeld (Kosovo), in Mazedonien und Griechenland, wo es zwischen 1941 und 1943, und in Teilen Südfrankreichs, wo es zwischen 1940 und 1943, sowie in Korsika, wo es von 1942 bis 1943 brutaler Besatzer war. Italianisierungsopfer und deren klageberechtigte Nachfahren aus Slowenien („Provincia di Lubiana“) und Kroatien (Istrien, Zadar, Kvarner Bucht und Süddalmatien), Gebieten also, die nach dem Ersten respektive während des Zweiten Weltkriegs als Teile Julisch Venetiens dem Königreich Italien eingegliedert waren, könnten ebenfalls bei Gerichten in ihren Heimatländern juristisch gegen das heutige Italien vorgehen und – parallel zum römischen Beispiel gegenüber Berlin – die ersatzweise Beschlagnahme italienischer Einrichtungen in ihren Ländern beanspruchen. Wenngleich auch deren Entschädigungsansprüche – ebenso wie jene der vom titoistischen Jugoslawien gemordeten oder vertriebenen Italiener („Esuli“) – im Vertrag von Osimo (1975) zumindest teilweise abgegolten waren.
 
Man denke schliesslich auch an jene Südtiroler, die nicht allein der erbarmungslosen Italianisierungspolitik bis 1943, sondern auch deren kaum weniger gewalttätiger Fortsetzung durch das „demokratische Italien“ nach 1945 zum Opfer fielen, besonders zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren. Hierunter fallen samt und sonders die der Folter unterworfenen Südtiroler Freiheitskämpfer. Vor deutschen und österreichischen Gerichten sollten nicht zuletzt Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon Kufner, drei noch lebende Opfer einer dortigen Justizfarce, gegenüber Italien Rehabilitations- und Entschädigungsansprüche einklagen, weil sie seit einem 1972 in Florenz ergangenen Urteil (nach einem Verfahren, welches österreichische und deutsche Höchstgerichte als menschenrechtswidrig qualifizierten) als Attentäter und Mörder im Zusammenhang mit einem Anschlag gelten, den begangen zu haben sie bis heute vehement bestreiten.
 
Der jüngst erschienenen Studie ‒ „Zwischen Porze und Rosskarspitz …“ Der „Vorfall” vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, Wien (Verlag GraWis), ISBN 978-3-902455-21-5; 368 Seiten € 29,70 des österreichischen Militärhistorikers Hubert Speckner zufolge ist die Tat vielmehr italienischen Geheimdienst- und Neofaschistenkreisen zuzuschreiben, denen es – mit Wissen und im Auftrag von Inhabern höchster Ämter in Regierung und Militär – darum ging, die Spannungen zwischen Rom und Wien in der Südtirol-Frage aufrecht zu erhalten sowie zudem den (später von Giulio Andreotti ausgesprochenen) „Pangermanismo“-Verdacht (verschwörungstheoretisch) zu untermauern.
 
Nach alldem lässt sich aus historisch-politisch begründeter Erfahrung mit Italien voraussagen: Kämen aus all den genannten Ländern und Gebieten sowie Opferkreisen Klagen auf die Repubblica Italiana zu, würden sich deren Repräsentanten, gleich welcher politischen Couleur sie angehören, in althergebrachter politischer Verschlagenheit sofort auf den Richterspruch des IGH und die völkerrechtliche Staatenimmunität berufen – „Sacro egoismo“ eben.
 
 
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