Textatelier
BLOG vom: 16.10.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (15)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Der Schreiber der Lebensbeichte, so dachte ich, war ein alleinreisender Tourist. Ein junger Mann in einer ihm vollkommen unbekannten Stadt, die ihm gefiel. Als Tourist hat man einen anderen Blick auf die besuchten Orte als die Bewohner selbst. Alles ist neu, die Gebäude und Strassen aus historischen Zeiten machen Eindruck. Der Gedanke: „Hier könnte ich leben!“ – wem ist solch eine Idee angesichts der bisher unbekannten Attraktionen noch nie gekommen? Das Leben ist einfach. An Geldverdienen denkt man im Urlaub nicht, tägliche Pflichten und Sorgen sind weit weg, nicht im Sinn. Man fühlt sich wohl, und das unbeschwerte Leben macht einfach Spass. Die meisten Touristen verwerfen den Gedanken wieder, wenn der Urlaub vorbei ist. War es hier anders?
 
Dem Blatt war ein weiteres Gedicht von Josef von Eichendorff vorangestellt: 
Der Abend
Schweigt der Menschen laute Lust:
Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar in allen Bäumen
Was dem Herzen kaum bewusst
Alte Zeiten, linde Trauer
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust. 
Es war Abend geworden, und ich wanderte langsam zum Campingplatz zurück, versorgte mich in einem Imbiss am Wege mit einem kleinen Abendessen und einer Flasche badischen Weins. Im Zelt, liegend auf der Luftmatratze, musste ich an Elisabeth denken. Ob ich sie je wieder sehen würde? Unwillkürlich musste ich schluchzen. Es war ein Abschied. Trennungen sind immer schmerzlich.
 
Langsam trank ich die ganze Flasche leer, kroch in meinen Schlafsack und schlief ein.
 
Mit einem Brummschädel wachte ich am nächsten Morgen früh auf, blickte aus meinem Zelt auf die Bäume und die Behausungen der anderen Camper. Die Sonne stand schon gelb am Himmel. Ich ging in den Waschraum und zog mich anschliessend an. Dann machte ich mich auf den Weg in die Stadt. In einer Bäckerei am Wegesrand, in der man auch Kaffee bekam, frühstückte ich. Die Kopfschmerzen verschwanden, die Sonne schien. Ich schlenderte durch die Altstadt von Freiburg (im Breisgau). Ganz spontan entschloss ich mich, auf den Schlossberg zu wandern. Das Fürstengeschlecht ‚Zähringer’ hatte sich dort im 11.  Jahrhundert ein Schloss bauen lassen, von dem es nur noch Ruinen gibt. Aber ich stellte mir vor, wie viele Menschen über die Jahrhunderte hinweg auf den Berg geklettert sind. Von der Spitze aus hat man einen schönen Ausblick über die Breisgauer Bucht und das Rheintal. Gegen Mittag lief ich wieder nach unten. Ich kam auf die Idee, in der Mensa der Universität zu essen. Gästen war es erlaubt, sie mussten nur ein wenig mehr dafür bezahlen.
 
Am Tisch kam ich mit einer jungen Studentin ins Gespräch. Sie studierte Biologie und war gerade erst im 1. Semester. Ihr Elternhaus war nicht weit von Freiburg entfernt, aber sie hatte sich hier ein Zimmer genommen. Ich erzählte ihr, dass ich auf der Durchreise war, aber mich ein wenig in die Stadt verliebt hätte, und ich würde gern hier wohnen und arbeiten. Sie versprach, mir bei der Wohnungssuche zu helfen, wenn ich meinen Traum wahr machen würde. Wir tauschten unsere Adressen aus. Sie hatte noch eine Vorlesung, aber am Abend habe sie Zeit und wollte gern mit mir in einer Studentenkneipe in der Stadt etwas trinken gehen.
 
Sie hiess Greta. Ich fand sie sehr sympathisch, ja schon diese kurze erste Begegnung weckte in mir die Hoffnung, sie bald wieder sehen zu wollen.
 
Am Nachmittag kaufte ich mir die ‚Badische Zeitung’, setzte mich in ein Café und studierte die Stellenangebote. Ein kaufmännischer Angestellter wurde gesucht und die Stelle passte genau auf meine berufliche Laufbahn. Ich beschloss, diese Firma aufzusuchen und mich ein wenig umzusehen und zu informieren.
 
Es war ein Wagnis, ohne Anmeldung und ohne dass ich irgendwelche Papiere bei mir hatte, nach dem Chef zu fragen. Ich war überrascht: Er empfing mich sehr freundlich. Ich erläuterte ihm, dass ich das Stellenangebot gelesen und Interesse hätte, mich darauf zu bewerben.
 
Er fragte mich, welche berufliche Ausbildung und Laufbahn ich bisher genommen hatte. Dann zeigte er mir noch den Betrieb, an dem auch ein Verkaufsraum für Sanitärausstattung angeschlossen war. Das war ein für mich gänzlich unbekannter Bereich, aber ich sei frohen Mutes, so erklärte ich ihm, mich schnell in diese Materie einarbeiten zu können.
 
Zum Schluss meinte er, ich hätte gute Chancen, vor allem, wenn meine Bewerbungsunterlagen ihn zusätzlich überzeugen würden, die ich ihm baldigst zusenden sollte. Dann entliess er mich.
 
Mein Entschluss stand fest. Wenn ich die Anstellung bekäme, würde ich dem Ruhrgebiet den Rücken zukehren und einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
 
Vor der Studentenkneipe wartete ich auf Greta. Sie kam 15 Minuten zu spät, und sie erklärte mir, dass sie von 19 Uhr ‚c.t’ ausgegangen sei, und nicht von ‚s.t.’. Ich lernte, das eine bedeute, dass eine Vorlesung, die auf 8 Uhr angesetzt worden ist, erst um 8.15 Uhr beginnt, wenn hinter der Zeitangabe ‚c.t.’, also ‚cum tempore’, angegeben ist; bei ‚s.t.’, das ‚sine tempore’ bedeute, würde man pünktlich beginnen. Die Verspätung nenne man die ‚akademische Viertelstunde’. So ergab sich ein angenehmes Geplauder über die Zeit und die Pünktlichkeit und über das Studentenleben allgemein.
 
Eine neue Welt tat sich für mich auf. Das Studentenleben war mir völlig fremd, und es unterschied sich so sehr von dem, was mir bisher in meinem Leben begegnet war.
 
Ja, ich wollte Greta wieder sehen, ich wollte etwas Neues! Mit einem kleinen Kuss auf die Wange verabschiedete ich mich von ihr und war überrascht, dass sie errötete. Hiess das nicht auch, dass sie mich mochte?“
 
Damit endete dieses Blatt. Die Unbeschwertheit, mit der der Schreiber der Lebensbeichte Kontakte knüpfte, sich in einer neuen Umgebung bei einer Firma vorstellte, imponierte mir. Ein neuer Lebensabschnitt tat sich auf!
 
Fortsetzung folgt.
 
 
Hinweis auf die bisherigen Kapitel der „Lebensbeichte“
 
 
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