Textatelier
BLOG vom: 16.08.2014

Lüneburger Heide: Alternativ-Wohnform für ältere Damen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Unsere Urlaubsreise führte uns zuerst in die Hansestadt Lüneburg. Der Ort, südlich von Hamburg im Bundesland Niedersachsen D gelegen, ist vor allem bekannt durch die „Lüneburger Heide“, aber diese sucht man in unmittelbarer Nähe zum Ort vergeblich. Man findet sie erst in einem Abstand von 20‒30 km. Besonders, wenn die Heide blüht, also wenn vor allem die Erikapflanzen ihre blauen Blüten öffnen, zeigt sich die Schönheit der Landschaft. Sie wird dann zum Anziehungspunkt für viele Touristen.
 
Im Hotel fragte ich, wo eine grössere Heidefläche zu finden sei, aber die Dame an der Rezeption meinte, ein Besuch lohne sich noch nicht, sie blühe erst in einigen Wochen. Das war allerdings ein Irrtum. Ein kleines 40-Einwohner-Dorf in etwa 30 km Entfernung von Lüneburg mit dem Namen Wilsede, das in die Stadt Bispingen eingemeindet worden ist, lud auf Sonntag, 10.08.2014, zur Besichtigung ein. Man könne dort alte Handwerke und die Wohn- und Arbeitsweise früherer Zeiten in der Landwirtschaft bewundern.
 
Das Dorf kann nur per Kutsche, Fahrrad oder zu Fuss erreicht werden, und so parkten wir einige Kilometer vor dem Ort, nahmen unsere Falträder aus dem Wagen und radelten los. Uns begegneten einige offene Pferdekutschen mit Touristen. Als wir aus dem Wald herauskamen, erreichten wir die Heide. Sie hatte, gerade zum rechten Zeitpunkt, in dieser Gegend ein paar Tage vorher zu blühen begonnen. Die leuchtenden Farben der Erika, unterbrochen von einzelnen Büschen und kleinen Bäumen in der leicht hügeligen Landschaft, lohnen einen Besuch.
 
Im Dorf hatte ein alter Hof, nun ein Heidemuseum mit dem Namen „Dat ole Huus“, seine Pforten geöffnet. Es war ein sogenannter Einraumhof; Tiere und Menschen wohnten und schliefen unter einem Dach. In Nebenräumen wurden die Reparaturen der Landmaschinen gemacht, gewoben und andere Verrichtungen durchgeführt. Ein paar Damen aus dem Dorf boten leckere Gerichte an: Waffeln, Schmalz- und Kräuterbrote und eine Gemüse-Graupensuppe. Wir setzten uns an einen Tisch vor dem Hof und liessen es uns munden.
 
Nach einiger Zeit setzte sich ein älteres Paar neben uns. Wir kamen rasch ins Gespräch und stellten fest, dass es so etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen uns gab. Wir plauderten zwanglos. Die Dame sprach von ihrem Reisebegleiter, mit dem sie ausser einer lockeren Freundschaft nur die Wohnnachbarschaft verband, und das seit einigen Jahren. Sie erzählte ein wenig aus ihrer Biographie. In Berlin geboren und aufgewachsen, hatte es sie irgendwann nach Lüneburg verschlagen. Und das, nachdem sie sich von einigen Männern getrennt hatte, mit denen sie nacheinander, ein paar Jahre, einmal sogar 7 Jahre, zusammengelebt hatte. Ich stellte fest, dass sich ihre berufliche Laufbahn mit der meinigen in einigen Teilen ähnelte. Auch sie hatte zu Anfang eine kaufmännische Ausbildung absolviert, hatte auf dem 2. Bildungsweg ihre Hochschulreife nachgeholt, war Lehrerin geworden, hatte dann aber erkannt, dass dieser Beruf ihr nicht zusagte. Sie begab sich dann in einen sozialen Beruf, hatte sogar einige Jahre mit ihrem damaligen Lebensgefährten, der nach dem Lehrerstudium in die Entwicklungshilfe gegangen war, einige Jahre in Afrika gelebt. Sie habe sich aber immer beengt gefühlt und sich dann wieder getrennt.
 
Jetzt, nach ihrem Berufsleben, lebe sie in einem Damenstift. Sie dürfe mit weiteren 6 Damen dort wohnen, weil sie einige Bedingungen erfüllte. Sie musste über 60 Jahre alt, weiblich und ledig sein und weniger als 1000 Euro im Monat Einkommen haben. So könne sie sehr preiswert eine kleine Wohnung belegen. Obwohl die Gemeinschaft sich also solche fühlte, waren daran dennoch keine weiteren Bedingungen verknüpft. Man lebe selbstständig, treffe sich regelmässig, habe aber sonst alle Freiheiten, sagte sie.
 
Wir man an ihrem „Reisebegleiter“ sehe, sei sie immer noch gern mit einem Mann zusammen, aber eben nur zu Ausflügen und kulturellen Aktivitäten. Er sei der erste Mann, der sie immer wieder zum Lachen bringe. Schon seine eitle Art belustige sie; so verschweige er ihr in all den Jahren sein echtes Lebensalter und überlasse es ihrer Schätzung.
 
Auf diese Weise verbrachten wir in angenehmer Runde einige Stunden, bevor wir wieder getrennte Wege einschlugen. Das Paar war, wie wir abschliessend feststellten, auch mit Rädern unterwegs.
 
Es kommt nicht oft vor, dass man mit vorher wildfremden Menschen gleich ein sehr herzliches Einvernehmen erzielt und zwanglos aus dem Leben plaudert. Wenn es zustande kommt, ist es immer wieder eine schöne Erfahrung.
 
An diesem Tag kamen wunderschöne Eindrücke bei unserer Radtour durch die faszinierende Natur hinzu, und wir konnten abends auf einen gelungenen, erlebnisreichen Tag zurückblicken.
 
Am nächsten Tag besichtigten wir das Kloster Lüne. Es wurde 1172 als Kloster der Benediktinerinnen gegründet und Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Einführung der lutherischen Reformation in ein evangelisches Stift für adelige Damen umgewandelt. Die unverheirateten Damen sollten ein Zuhause haben. Noch bis vor wenigen Jahren war es Bedingung, dass die Bewohnerinnen aus dem Adelsstand stammten. Und so findet man auf dem Friedhof nur Gräber mit Namen, in denen ein „von“ vorkommt. Es bietet 12 Damen Unterkunft; allerdings wohnen nur 7 deren dort. Versehentlich „aus Gewohnheit“ reden sich die Bewohnerinnen immer noch mit „von“ an, auch wenn ihr Name kein adeliger mehr ist. Es gibt zwar eine Art Hierarchie mit einer Äbtissin und einer Priorin, aber eher für die Abwicklung der Geschäfte, denn das Stift ist heute eine Körperschaft des öffentlichen Rechts unter der Aufsicht des Landes Niedersachsen. Die Damen und einige „Stadtdamen“, also Unterstützerinnen, die nicht im Kloster wohnen, teilen sich die anfallenden Arbeiten im und um die älteren Gebäude inmitten einer Grünanlage mit altem Baumbestand und Streuobstwiesen.
 
Beeindruckend sind die Brunnenhalle, die Klostergänge, die Buntglasfenster, das Refektorium und die Kirche mit einer Barockorgel und einem Altarbild aus der Schule Lucas Cranach des Älteren. Ein echter Kunstschatz bildet die Sammlung alter riesiger gestickter Teppiche, die nie auf dem Boden gelegen haben und nur zu besonderen Anlässen gezeigt wurden, Weissstickereien, gotische Schränke und Truhen, die älteste davon aus dem Jahr 1174.
 
Die Führungen durch das Kloster sind eine der Aufgaben der Stiftsdamen. Uns führte die Priorin, Freifrau Reinhild von der Goetz, durch das Kloster. Sie zeigte uns die Klosterzellen, die engen und schmucklosen der anfänglich dort wohnenden Benediktinerinnen und die der edlen Damen mit wunderschönen Wandmalereien. Sie wies auf eine verschlossene Tür, hinter der sie ihre Zelle habe.
 
Man müsse zwar nicht mehr adeliger Herkunft sein, aber evangelischen Glaubens, über 60 Jahre alt, unverheiratet und bereit sein, Aufgaben zu übernehmen. Man sei kein Alters- oder gar Pflegeheim, das könne man sich gar nicht leisten. Die Priorin wohne bereits 17 Jahre im Stift. Ihr Vortrag war sehr fundiert, und die Dame erinnerte mich an eine strenge Rektorin aus meiner Kindheit. Ganz bestimmt hatte sie in ihrem Berufsleben eine leitende Stellung ausgeübt. Die Bewohnerinnen träfen sich regelmässig allwöchentlich, um die weiteren sozialen, geistlichen und kulturellen Projekte, besonders auch zu christlichen Feiertagen, zu besprechen, die das Kloster anbietet und zu einem gemeinsamen Mahl, vernahmen wir. Ansonsten sei man als Bewohnerin frei und könne tun und lassen, was man wolle. Es bestehe auch keine nächtliche Anwesenheitspflicht. Bewerberinnen, die gern ihren Lebensabend mit ihnen verbringen wollen, seien willkommen, es gebe noch freie Plätze und genügend Aufgaben für alle.
 
Bisher hatte ich mir nur selten Gedanken darüber gemacht, dass es neben den Altersheimen und Mehrgenerationenhäusern noch weitere Möglichkeiten gibt, wenn man unverheiratet, geschieden oder verwitwet und weiblichen Geschlechts ist, den Lebensabend zu verbringen, um nicht einsam und allein in einer Wohnung hocken zu müssen.
 
Quellen
www.kloster-luene.de
de./wikipedia/wiki/wilsede
 
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