Textatelier
BLOG vom: 14.05.2014

Der Spaziergänger: Ruhig seinen Gedanken nachgehen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Der gemütliche Spaziergang nach Lust und Laune, nur seinen Gedanken folgend, ist erholsam. Solche Spaziergänge sind, im Gegensatz zu Wanderungen, an kein Ziel gebunden: flanieren ist das treffende Wort dafür.
 
Auf meinen Geschäftsreisen zweigte ich zwischen den Treffen immer wieder Zeit zum Bummeln ab. Dabei war ich meistens an Städte gebunden. Am liebsten spaziere ich allein und sammle Eindrücke, betrachte einen Erker, eine originelle Ladenauslage, einen kleinen Park abseits des Gewimmels, auch die durch die Strassen hastenden Fussgänger. Solche Augenblicke sammle ich auf meiner Netzhaut – die beste Kamera für Augenmenschen wie ich.
 
Der Frühling erweckt unfehlbar meine Wanderlust frühmorgens. Im Hochsommer bevorzuge ich die kostbaren Stunden, wenn der Tag dem Abend zutreibt. Dann werden die Leute gesellig und ich auch. Bin ich allein, verarbeite ich oft meine Tageseindrücke in meinem Notizblock. Dann und wann gewinne ich dabei Ansatzpunkte für Texte. Diese umkreise ich mit dem Bleistift, ehe sie im Gedächtnis verschimmeln. Nachher ist es Zeit, zielbestimmt einen Sitzplatz fürs Abendessen zu ergattern.
 
Hier tische ich einige Impressionen von einem meiner früheren Spaziergänge auf (Blog vom 22.12.2005: Lichtblicke in Leiden NL – „Stad van Ontdekkingen“).
 
Der Plakatanschlag „Leiden Stad van Ontdekkingen“ (Stadt der Entdeckungen) gefiel mir. Die Stadt ist von Grachten durchzogen, gesäumt von ehrwürdigen Gebäuden, die durchaus mit vielen in Italien wetteifern können. Ich pendelte über die vielen Brücken, worunter auch etliche Zugbrücken, von einer zur andern Strassenseite. Ab 2 Uhr begann sich der Sonneneinfall zu verflachen. Es dämmerte schon in den Seitengässchen. Das drängte meine Augen zur besonnten Höhe der Kirchen und Giebel.
 
Auch die Hauswände haben es in Leiden in sich: Viele sind mit altholländischen Versen und Inschriften beschickt. Auch moderne Poesie fehlt nicht. Ich notiere diesen Vers, auf Englisch von ee.cummings (1894–1962), auf die weisse Hauswand gepinselt: 
„in the mirror
i see a frail man dreaming
dreams
dreams in the mirror” 
Eine andere Inschrift auf Holländisch an einem Prachtbau (ich hätte mir den Namen merken sollen!) konnte ich nur sehr bruchstückhaft entziffern: Es ging um Hungersnot, Tod und Gott.
 
Weiter unterwegs entdecke ich wieder einen fesselnden Lichtblick unter einem Giebel und lese die vergoldete Inschrift unter der Skulptur eines edlen Türken von Neptun und Hermes flankiert: „IN DEN VERGULDEN TURK“ (beim vergoldeten Türken). Die Sonne hatte es aufs Gold abgesehen.
 
Gern hätte ich mehr über die Geschichte Leidens erfahren. Doch heute wollte ich den Lichtertag geniessen, kein Gässchen auslassen, und da und dort und immer wieder im Wasserspiegel der Grachten den welligen Abglanz der Häuser auf mich einwirken lassen. Ein 2. Mal bewundere ich das klassische Gebäude, das „Leidse Schouburg“ (das Stadttheater).
 
Eines wollte ich nicht missen, ehe ich mich zum Rückflug anschickte. So betrat ich die altmodische Konditorei, wie aus einem Bilderbuch, und merkte erst beim Kuchen, wie hungrig ich geworden war. Man lebt also nicht nur von Augen allein.
 
Jetzt, wo ich diese „Leidse“-Impression niederschreibe, höre ich Bach-Kantaten. Das BBC3-Programm ist diesem Komponisten gewidmet. Das passt ausgezeichnet zu Leiden und Rembrandt van Rijn aus Leiden.
 
Das Wiederlesen in zeitlicher Distanz und in einem anderen Zusammenhang kann reizvoll sein.
 
 
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