Textatelier
BLOG vom: 03.03.2014

TV-Magazin. Werbung für Senioren. Lifte als Treppenwitz

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Als Beilage der hier am Niederrhein führenden Zeitung „Rheinische Post“, die mit anderen Namen versehen in weiteren Teilen des Bundeslandes, ausserdem in östlichen Bundesländern und in Teilen von Bayern, erscheint, wird dem Leser jeweils freitags das Fernsehmagazin „prisma“ beschert. Der Name ist auf dem Titelblatt in kleinen Buchstaben geschrieben. Das Blatt wird von dem Journalisten Detlef Hartlap herausgegeben.
 
Dieses Fernsehmagazin listet das Fernsehprogramm der wichtigsten Sendestationen Deutschlands auf, gibt Hinweise auf nach Meinung der Redaktion sehenswerte Filme, manchmal als Tipp des Tages, und beurteilt sie mit bis zu 3 Sternen. 3 Sterne bedeutet „super“, 2 „gut“ und 1 Stern „geht so“. Es ist dabei gleichgültig, ob der Film von privaten oder öffentlich-rechtlichen Stationen ausgestrahlt wird.
 
Viel Platz wird im „ prisma“ für Werbung verwendet. Die Werbeinhalte sind auf die Zielgruppe abgestimmt und zeigen, was die Redaktion von ihr hält. Natürlich hat sie vorher prüfen lassen, wer das Magazin liest. Angeblich erreicht das Blatt 9,4 % der deutschen Bevölkerung über 14 Jahren, in NRW 25,5 % und in der Ausgabe Ost 15 %, insgesamt sollen das 6,13 Millionen Menschen sein. Interessant ist die Altersverteilung: Da stellt sich heraus, dass davon etwa 5 Millionen über 40 Jahre alt sind und sogar 1,7 Millionen über 70.
 
So versteht sich auch, welche Werbung zu finden ist. Die Zielgruppe ist betagt. Was braucht nach Ansicht der Redaktion ein älteres Publikum mit entsprechendem Einkommen? Ob der Chefredakteur (Geburtsjahr: 1950) dabei auch an sich gedacht hat?
 
Es gibt Reiseangebote, und zwar solche, die so gut wie alles regeln: die Anreise, die Hotels, die Fahrten zwischen den Orten bei Ausflügen, oft Halb- oder Vollpension, Gesundheitsprogramme wie Massagen und Kuranwendungen. Auch bei Kreuzfahrten ist die Vollversorgung inklusive. Je nach Ziel und Geldbeutel gibt es Anreisen per Bus oder per Flugzeug. Die Ziele liegen im Inland, z. B. in Bayern, an der Ostsee oder in Europa.
 
Die Altersstufe hat natürlich mit allerlei Gesundheitsbeeinträchtigungen zu kämpfen. Es wird ausführlich empfohlen, sich liften zu lassen, denn die häufigen und vielfältigen Angebote von Treppen- und Badewannenliften fallen auf. Auf den 60 Seiten des Wochenmagazins zähle ich 7 Anzeigen für Treppenlifte, die grösste davon belegt eine dreiviertel Seite. Ich meine, es ist ein „Treppenwitz“ in der Bedeutung von „unangemessenes lächerliches Verhalten“, wenn man die Zahl dieser Anzeigen bedenkt. Lifte, die den Einstieg in die Badewanne erleichtern, werden 3 × beworben.
 
Welche Gebrechen quälen im Alter? Ich finde Anzeigen für „Schlau“- Diäten und Schlankmacher, gegen Laktose-Intoleranz, Erektions- und Schlafstörungen, nicht nur einmal, sondern oft mehrfach. Die Mittel gegen Übergewicht, Beischlafprobleme und das nächtliche Wachsein scheinen sehr lukrativ zu sein, die Angebote belegen ganze Doppel-, Einzel- und Halbseiten. Natürlich sind alle – frei verkäuflichen – Mittel wissenschaftlich erprobt und bewährt. Ich lerne, dass „allein in Deutschland jeder dritte Mann über 40 an Erektionsstörungen leidet“ und dass ein Mittel aus dem Extrakt der Passionsblume vor Stress, Belastungen und Sorgen schützt.
 
Eine Doppelseite informiert über Diabetes, „der modernen Wohlstandskrankheit“. Diese Seite, als einzige dieser Ausgabe, macht sogar richtig Spass. Es wird ein Farbfoto aus dem Film „Das grosse Fressen“ (frz. „Le Grand Bouffe“, ich erinnere mich: Es ist der Film mit Marcello Mastroianni), geboten, auf dem eine wenig bekleidete, offenherzige mollige Dame (Andréa Ferréol) auf einem reich gedeckten Esstisch sitzt und genüsslich Weintrauben in ihren Mund schiebt.
 
Natürlich gibt es auch noch eine „Lebensart“-Kolumne, in der vor Hauttumoren gewarnt und ein Gesundheitssystem gefordert wird, das nicht „unter dem Aspekt der Kosten“ gesehen werden darf.
 
Und wenn das alles geholfen hat, so lese ich in weiteren Annoncen, lockt eine Orchideen-Schau, ein Konzert mit den Harlem Globetrotters, den Sportfreunden Stiller, den Opernchören  oder der Show „Afrika“ des „Multimediakünstlers André Heller“, denn es könnte ja sein, dass das Fernsehprogramm doch nicht das bietet, was von Interesse ist!
 
Eigentlich kann das nicht sein. Das Leben ist doch so spannend! So weist das Titelblatt dieser Ausgabe und der Tipp des Tages auf das „überzeugende Doku-Drama“ „Der Rücktritt“ hin, das im Fernsehen beim Privatsender Sat. 1 „noch einmal sprachlos macht“, und „Die letzten Tage einer Präsidentschaft“ des Christian Wulff beleuchtet. Ob die Zielgruppe beim Anschauen des 2 Stunden dauernden Films, dem noch eine 1-stündige Dokumentation folgt, alle Gesundheitsprobleme vergisst und danach keine schlaflose Nacht verbringt, ist die Frage. Eine Warnung für mit diesen Gebrechen kämpfende Senioren vor diesem Programm ist nicht zu finden. Vielleicht deshalb, weil so ein Fernsehabend wie Medizin wirkt und erholsame Träume beschert?
 
 
Quelle
prisma, Das Fernsehmagazin Ihrer Zeitung, prisma-Verlag, Düsseldorf, Nr. 8/2014
 
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