Textatelier
BLOG vom: 31.12.2013

Wendezeit: 100 Jahre deutsche Geschichte in 45 Minuten

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen D
 
 
Geschichtsunterricht im Gymnasium. Der Studienrat spricht mit gehobener Stimme: „3 Jahreszahlen nenne ich Euch, inhaltsschwer, sie gehen von Munde zu Munde.“
 
Mit normaler Stimme ergänzt er: „Sie künden von schicksalsschweren Zeiten. Lasst uns eine Dokumentation erarbeiten, die zeigt, wie sehr sie davon Kunde geben, wie wir jetzt leben.“
 
Die Schüler hören ihn und denken: „Jetzt spinnt er wieder. Was soll der alte Mist? Es war wie es war, und es ist wie es ist!“
 
Der Studienrat hört das feindliche Grummeln und denkt, ich zeige es ihnen: „Prägt euch die 3 Zahlen ein, sie werden Grundlage für die zukünftige Arbeit und auch für Klassenarbeiten sein.“
 
Der Protest wird lauter, ebbt dann resignierend ab.
 
„Zeugnis- und prüfungsrelevant?“ Ein Schüler fragt zögerlich.
 
Der Studienrat nickt bedeutungsvoll.
 
„Die Ereignisse gehören zur Allgemeinbildung eines jeden Deutschen.“
 
Mit ernster Miene beginnt er: „Was war vor genau 100 Jahren, im August?“
 
Die Schüler rechnen zurück: 2014 minus 100 ist 1914.
 
Ein Arm geht nach oben.
 
„Ja Felix?“
 
„Meine Urgrossmutter ist in diesem Jahr geboren worden.“
 
Seine Mitschüler lachen.
 
Der Studienrat erläutert: „Du gehörst also zur 4. Generation nach diesem Schicksalsjahr. Wahrscheinlich steht in unserem Geschichtsbuch nichts über deine Grossmutter. Das bedeutet aber nicht, dass das kein wichtiges Ereignis war, wäre es nicht geschehen, sässest du jetzt nicht hier.“
 
Felix: „Also war es ein historisches Ereignis, jedenfalls für meine Genealogie.“
 
Der Studienrat ist erstaunt, dass Felix das Fremdwort kennt. Grinsend antwortet er: „Du hast also schon einmal an deinen Stammbaum gepinkelt!“Die Klasse lacht. – „Ich habe wieder Aufmerksamkeit“, denkt er.
 
Genealogie wird nämlich abgeleitet von altgriechisch genea, was Familie bedeutet und logos = die Lehre. Genealogia ist also der Stammbaum.
 
Nach einer Verschnaufpause fährt er fort:
„Aber jetzt Spass beiseite. Im Jahre 1914 begann was?“
 
Marten meldet sich:
„Der erste Weltkrieg!“
Der Studienrat nickt.
 
„Weiss jemand, was der Auslöser war?“
 
Die Schüler schweigen, so dass die Beantwortung beim Studienrat bleibt.
„Der Erzherzog von Österreich-Ungarn, der Thronfolger des Staates Österreich-Ungarn, wurde durch Mitglieder einer jugoslawischen Studentenorganisation erschossen, mit dem Ziel, die Befreiung von Bosnien-Herzegowina zu erreichen, das von Österreich-Ungarn beherrscht wurde.“
 
„Und was hat Deutschland damit zu tun?“ fragt ein Schüler. Er zeigt mit dem Finger auf einen Mitschüler, dessen Eltern aus Bosnien nach Deutschland emigriert waren: „Hat sein Urgrossvater uns das eingebrockt?“
 
„Dazu muss man etwas über die Bündnispolitik im damaligen Europa wissen“, antwortete der Studienrat. „Als Hausaufgabe macht bitte eine Zusammenfassung davon. Ihr wisst, wie ihr an Informationen kommen könnt, aber verlasst euch nicht allein auf Wikipedia! – Und Murats Vorfahren waren nicht diejenigen, die uns das eingebrockt haben, wie du so schön sagst, das haben wir nämlich uns selbst anzukreiden.“
 
Die Schüler schreiben sich das Thema auf.
 
„Das war der erste Termin, vor 100 Jahren. Das 2. wichtige Datum ist 65 Jahre her. Was meine ich wohl?“
 
Manuel meldet sich: „Die Gründung der Bundesrepublik.“
 
„Sehr gut“, antwortet der Studienrat. „Weiss jemand, wie der erste Bundeskanzler hiess?“
 
„Adenauer?“ einige Schüler antworten, mehr mit einer Frage und weniger mit einer Antwort.
 
„Richtig“, sagt der Studienrat. „Wir werden uns in einem der nächsten Geschichtsstunden seine Rede der Verkündigung des Grundgesetzes vornehmen.“
 
„Und welche 3. Jahreszahl meine ich? Seit diesem Jahr ist Deutschland nicht mehr geteilt“, hilft er ein wenig nach.
 
David meldet sich: „1989, also vor 25 Jahren! Seit dem kommen die Ossis!“
 
„Wenn du dich als Wessi bezeichnest, habe ich nichts gegen das Wort, aber wenn du es diskriminierend meinst, möchte ich es nicht mehr hören“, warnt der Lehrer.
 
„Wer fasst die Daten noch einmal zusammen?“ fragt er.
 
Er wählt aus den 5 Schülern, die sich melden, ein Mädchen aus:
„Hannah?“
 
„1914 war der Beginn des I. Weltkrieges, 1949 die Gründung der Bundesrepublik und 1989 die Wiedervereinigung.“
 
„Weiss jemand, was wir nicht vergessen dürfen, wenn wir die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre besprechen?“
 
David meldet sich.
„Hitler?“
 
Der Studienrat nickt: „Richtig, das III. Reich, und ausserdem die Zeit vor 1933, die Weimarer Republik, und natürlich den II. Weltkrieg.“
 
„Zeigen Sie auch alte Filme?“ fragt Mara.
 
„Mal sehen, wenn ihr weiter so gut mitarbeitet, ganz bestimmt!“ antwortet der Studienrat freundlich. „Jetzt hören wir uns erst einmal Kaiser Wilhelm II. mit seinem ‚Aufruf an das deutsche Volk’ vom 06. August 1914 an.“
 
Aus dem Lautsprecher klingt knarrend:
 
„An das deutsche Volk!
 
Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre mein und meiner Vorfahren heisses Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwickelung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit.
 
Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewusstsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. Man verlangt, dass wir mit verschränkten Armen zusehen, wie unsere Feinde sich zu tückischem Überfall rüsten, man will nicht dulden, dass wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen stehen, der um sein Ansehen als Großmacht kämpft und mit dessen Erniedrigung auch unsere Macht und Ehre verloren ist.
 
So muss denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! Zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.
 
Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter neu sich gründeten. Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens.
 
Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross. Und wir werden diesen Kampf bestehen auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“
 
Ein paar Schüler rufen im Chor: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben!“
 
„Aber nur für den Totentanz“, sagt der Studienrat, während er Kopien der Rede austeilt, „denn ein paar Millionen junger Soldaten haben wirklich in diesem mörderischen Krieg ‚den letzten Hauch’ getan. Lest euch die Rede einmal durch. Unterstreicht bitte die Aussagen, die euch wichtig erscheinen.“
 
Die Schüler beschäftigen sich mit dem Text.
 
Auf eine Stelle darin geht der Studienrat direkt ein.
 
„Eine Frage: Was meint Kaiser Wilhelm II. mit den 43 Jahren Frieden?“
 
Die Schüler schweigen.
 
Der Studienrat erläutert: „Habt ihr schon einmal etwas vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gehört?“
 
Daniel glaubt, es zu wissen: „Deutschland hat gewonnen. Danach kam es zur Gründung des Deutschen Reichs.“
 
Die eben noch singende Gruppe stimmt ein neues Lied an: „We are the champions!“
 
„Nicht so voreilig, meine Herren, das dicke Ende kommt noch,“ sagt er Studienrat und wendet sich Daniel zu. „Hervorragend, Daniel, sehr richtig!“ lobt ihn der Studienrat, „nur nebenbei, was können wir im nächsten Jahr, also 2015, feiern?“
 
Fragende Gesichter der Schüler.
 
„70 Jahre ohne Krieg in Deutschland!“ sagt der Studienrat.
 
„Ob die 1914 schon wussten, wie man Schwerter zu Pflugscharen macht?“ fragt Rieke.
 
„Bestimmt nicht!“ weiss Hanno, „die wollten nur draufhauen.“
 
Das Pausenzeichen  ertönt, die Stunde ist vorbei.
 
„Vergesst die Hausaufgabe nicht, denkt an die Bundesgenossen, die der Kaiser erwähnt hat“, ruft der Studienrat den Schülern, die hinausstürmen, noch nach.
 
„Das wird noch ein gutes Stück Arbeit, ihnen den Zusammenhang zwischen 1914 und 1989 klar zu machen“, denkt er. Zufrieden geht er zum Lehrerzimmer.
 
 
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