Textatelier
BLOG vom: 24.11.2013

Zeitzeichen der Moderne: Der Totalverlust der Lockerheit

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Es sei zum Verzweifeln, schrieb mir kürzlich eine nette Bekannte, die sich gern schriftstellerisch betätigt und dabei eines ihrer Talente auslebt. Dieses Schreiben falle ihr zunehmend schwer. Ich fühle einfach, dass es mir nicht mehr leicht fällt, ein Thema anzupacken und locker zu erzählen.“ Sie begründete ihre Blockade damit, dass man heute das Persönliche der Menschen nicht mehr berührt werden dürfe; da es als geschützt zu betrachten sei. Es gebe Jugendliche, die nicht einmal mehr zulassen, dass man sie verwandtschaftsintern fotografiere. Dies ist wohl auf die neuen Sozialmedien zurückzuführen: Die mit Mobiltelefonen bewaffneten Kinder wurden und werden eindringlich darauf aufmerksam gemacht, nichts (und vor allem auch keine Bilder aus dem Privatleben) in der Öffentlichkeit preiszugeben, weil das ihnen in anderem Zusammenhang das (Berufs-)Leben erschweren könnte, allenfalls noch nach Jahren.
 
Ich habe Verständnis für dieses Empfinden und die Haltung, die sich daraus ergibt. Zwar war das Leben schon immer lebensgefährlich, und inzwischen ist es noch gefährlicher geworden. Die Totalüberwachung der Menschheit und, innerhalb davon, der einzelnen Individuen, die Datensammlerei grössten Stils als Pionierleistung der Amerikaner sind in den letzten Monaten unter dem Stichwort „Schnüffelstaat“ derart ausgiebig aufs Tapet gebracht worden, dass sich weitere Ausführungen darüber erübrigen. Man erliegt denn auch bereits einem Abstumpfungseffekt, welcher auch der geeignete Nährboden für noch weitergehende Ausspähaktionen ist. Was die Lage zusätzlich verschlimmert. Man gewöhnt sich daran, und am bitteren Ende ist das Normalität.
 
Ein Blick auf die Ursachen muss sein. Durch ihre von Eigennutz und Aggressivität bestimmte Politik haben die USA im Rahmen ihres Weltherrengehabes ihnen ergebene Despoten auf die Throne der Länder gesetzt und, gestützt und auf der Grundlage frei erfundener, durch willfährige Medien kolportierte Motive, einen Krieg nach dem anderen in Szene gesetzt. Die Welt sollte erfahren, wer das Sagen hat. Da es an militärischer Macht niemand mit ihnen aufnehmen kann – diese wurde bis zum Ruin der Staatsfinanzen ausgebaut –, blieb den zu Feinden gestempelten Ländern und Organisationen bloss noch die Möglichkeit zu terroristischen Widerständen und Aktionen, die Unsicherheit, Schrecken und Ängste verbreiten. Gewissermassen musste schweres Kriegsgerät durch die Beweglichkeit von geistig beweglichen Partisanen, die aus dem Hinterhalt operieren und den Allmächtigen Schaden zuzuführen versuchen, ersetzt werden. Infolgedessen müssen sich die Amerikaner überall auf der Welt bedroht fühlen, und umgekehrt fühlt sich die Welt durch die USA bedroht. Ein Beispiel sind die Schweizer Banken, die keine Gelder von Kunden mehr annehmen, die eine Verbindung zu den USA haben, auch wenn es bei diesen um vollkommen unverdächtige und unbescholtene Leute handelt.
 
Das wiederum beantworteten die USA und Nationen, die ihre Helfershelferdienste leisten und dadurch ebenfalls ins Visier des internationalen Terrorismus geraten, mit einem zunehmenden Ausbau der Kontrollstaatlichkeit. Diese ging bald einmal über das strategisch Sinnvolle und Notwendige hinaus und wird heute zum Anlass für eine totale Überwachungsstaatlichkeit genommen, vor der es kein Entrinnen gibt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die sich korrekt und gesetzeskonform verhalten, kann sich schon lange nicht mehr hinter dem beruhigenden Gefühl, nichts zu verbergen zu haben, in Frieden zurücklehnen. Sondern auch diese muss jederzeit damit rechnen, aufgrund von verhängnisvollen Zufällen, die zu belastenden Anklagen führen können, in die Mühlen einer ausgeuferten Überwachungsmentalität mit ihren digitalen Möglichkeiten zu Verknüpfungen zu gelangen, die von Advokatenheeren nach dem himmelschreienden Vorbild USA noch beflügelt und damit intensiviert wird. Die Inexistenz von etwas zu beweisen, das nicht war, ist besonders schwierig, oft unmöglich. Hinzu kommen noch Vorverurteilungen nach US-Muster und ein Justizwesen, das ins staatliche Machtgehabe eingebunden ist. Die Schweiz tut gut daran, kein fremdes Recht zu übernehmen und sich nicht fremden Richtern zu unterwerfen, wie schon im Bundesbrief von 1291 gefordert. Diese Forderung, geboren aus einem Unabhängigkeitsstreben, ist aktueller denn je.
 
Die Unterjochung ist ausgebaut genug. Heute wird sozusagen jede Bewegung der Menschen, ihre Reisetätigkeit, ihr Einkaufsverhalten, ihr Brief- und Zahlungsverkehr und ihre ganze Kommunikation überwacht. Dass Grossverteiler ihr Rabattwesen noch heute über die Registrierung jedes Kunden und jedes seiner erworbenen Produkte abwickeln und dafür Unsummen ausgeben, die wiederum auf die Preise geschlagen werden, schreit zum Himmel. Wer seine Cumuluskarte oder Supercard an den Kassen der Grossverteiler nicht vorweist, ist insofern im Nachteil, als er diesen Registrierungsunfug wohl mitfinanziert, nicht aber davon profitiert. Da lobe ich mir Lidl und Aldi und all die anderen Anbieter, die sich nicht ins Privatleben einmischen und bei denen man nicht den ganzen Lebenslauf hinterlegen muss, um ein Paar Laufschuhe zu kaufen für den Fall, dass man dem Zivilisationsbetrieb davonlaufen möchte. Zu einer besonders ekelhaften Übung werden heute die Kontrollen an den Flughäfen, die einem sämtliche Reiselüste vergällen. Hierbei gerät der Inhalt der Zahnpastatube mit Schutzfaktor gegen den Zahnfleischschwund in Verdacht, Sprengstoff zu sein.
 
In einem derartigen Umfeld muss die Lockerheit zwangsläufig dahinsiechen und mit der Zeit eines natürlichen Tods sterben. Verklemmungen und Ängste treten an ihre Stelle. Und bei jeder Handlung und jedem Wort, das ich von mir gebe, muss ich zuerst überlegen, ob es gegen mich ausgelegt werden könnte, besonders wenn es durch Publikationen irgendwelcher Art öffentlich zugänglich ist.
 
Das Wesen des Lockeren besteht darin, nicht fest mit einer Sache verbunden, nicht festgefügt zu sein. Locker sein als menschliche Eigenart heisst unverkrampft, zwanglos, leger zu sein, sich nicht an einengende Verhaltensmuster zu halten. Man spricht ja auch von einem lockeren Mundwerk.
 
Nur dieses lockere Mund- oder Schreibwerk gewährleistet den Aufbruch zu neuen Ufern, zu neuen Erkenntnissen. Ausschweifende Gedanken und die Fantasie müssen ihren Platz haben, wenn künstlerische Freiheiten genutzt werden sollen, die erstarrte Verhältnisse überwinden helfen, neue Horizonte aufzeigen, die wiederum in aller Gelöstheit begutachtet werden müssen.
 
Die Lockerheit ist allem vor allem dem etablierten Journalismus abhanden gekommen. Der Mut, in einem Kommentar eine eigene, sich vom Rudeljournalismus abhebende Meinung von sich zu geben, kann dem Würgegriff der überall lauernden Zangen und Fallstricke kaum noch entkommen. Also kapituliert man präventiv. Wer sich anpasst, unterordnet, kommt leichter durchs Leben. Im Twitter lösen viele dieses Dilemma mit einem Pseudonym, ein fantasievoller Deckname. Doch nicht immer kann man sich in einen geschützten Raum zurückziehen: Grossraumbüros ermöglichen die gegenseitige Direktüberwachung und sind damit Brutstätten von Mobbing.
 
Die Anpassung und Unterordnung unter Meinungsdiktate, dieser Weg des geringsten Widerstands, hat seinen Preis: Die Freude am Beruf. Das Roboterhafte, wie es bei den Moderatoren von TV-Nachrichtensendungen in Gestalt der immer gleichen Floskeln und Betonungen besonders auffällig überhand nimmt, reduziert den Menschen mit seinen Tief- und Höhenflügen, seinen Stimmungen und den sich wandelnden körperlich-geistigen Zuständen auf ein Konstrukt, das wie eine Jahrmarktorgel abspielt, was ihm ein Lochkartenband zuträgt. Die Auf-und-Ab-Bewegungen des Stabs, der von einem geschnitzten Dirigenten geführt wird, lassen kein Eingehen auf das Tongemälde zu, abgesehen vom Rhythmus. Und wenn das Band durchgelaufen ist, ist Feierabend. Morgen wird ein neues Lochband auf die alte Weise abgespult. Wo die Lockerheit zu lottern beginnt, wird repariert.
 
Im gleichen Sinne wird die Globalisierung als detailliert überwachte Uniformierung zur Fessel. Sie legt schöpferische Kräfte lahm, beschleunigt den intellektuellen Niedergang der Gesellschaft. Meine eingangs erwähnte, empfindsame Bekannte ist dabei, ein Opfer davon zu werden, eines unter vielen. Sie mag nicht mehr gegen Windmühlen anrennen, wird zermalmt, empfindet ein Lockout, eine Aussperrung, gesellschaftlich ein Verlust.
 
Unangepasste Menschen, die sich allen Widerständen zum Trotze im Rahmen der Gesetze und der Ethik bewegen, dürften nicht abgestraft werden. Man müsste sie feiern, motivieren. Ich möchte zu dieser Auflockerung beitragen – aus meiner altersbedingten Narrenfreiheit heraus, die eher früher als später aus biologischen Gründen beendet sein wird.
 
Selbst solche Zukunftsaussichten muss man locker nehmen.
 
 
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