Textatelier
BLOG vom: 12.03.2013

Goldene Hochzeit: 50 Jahre am warmen Herd des Friedens

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Damals, im März 1963, quälte sich der gesamte Verkehr aus dem Raum Zürich, der dem Bündnerland zustrebte, noch über den Kerenzerberg, eine verhältnismässig schmale, kurvenreiche Strecke. Sie bietet immerhin oberhalb von Näfels GL manch einen schönen Ausblick ins Glarnerland, dann hinunter zum Walensee, den die Motorisierten früher „Qualensee“ nannten, und hinüber zu den Churfirsten. 1964 wurde zwischen Weesen am Westende des Walensees und Murg (Kanton St. Gallen) die N3 als zweispurige Hauptstrasse eröffnet – ein Abfolge von 6 Tunnels, was die Passfahrt hinauf in die Höhen des Kerenzerbergs erübrigte.
 
Das Familienbüchlein
Bis damals war es für mich ein aufwendiges Unterfangen, meine im Bündnerland an der Lenzerheidestrecke lebende Freundin Eva zu besuchen, ebenso wie für sie, zu mir ins Unterland zu reisen. Also beschlossen wir, der Einfachheit halber zu heiraten und uns im Unterland, im wunderschönen, milden Aargau, anzusiedeln. Um meine atheistischen Gefühle nicht zu verletzen, verzichteten wir auf eine kirchliche Trauung und schlossen den Bund der Ehe einfach auf dem Zivilstandsamt in Reinach AG (im Oberwynental), wozu unser Familienbüchlein als Beweisstück dient. Darin ist ein sinnreicher Text von Carl Günther, einem mir unbekannten Autor, der die Ehegatten lehrt, sich künftighin als Organ eines höheren Ganzen zu sehen, sich füreinander verantwortlich zu fühlen, einen „Herd des Friedens“ zu gestalten, an dem sich einmal auch die Kinder wärmen können.
 
Zufallshalt in Obstalden GL
Solcherart unterrichtet fuhren wir an jenem 09.03. in unserer Ford-Taunus-Occasion („17 M“) über den „Kerenzer“ nach Chur. Wir hatten die Verwandtschaft in die Zunftstube „Zur Rebleuten“ zur kulinarisch unterlegten Hochzeitsfeier aufgeboten. Bei der Hinfahrt hielten wir, einer spontanen Eingebung folgend, in Obstalden GL auf den Kerenzerberg an. Ein einfaches, mit viel Holz ausstaffiertes Kirchlein ohne Kruzifixe und ohne die bildhafte Drohkultur, mit der arme Sünder gedeckelt werden, stand offen, und auf der Empore übte der Organist oder sein Stellvertreter. Nur eine biedermeierliche Holzkanzel, ein kunsthandwerkliches Meisterstück, und ein paar freigelegte Wandmalereien aus dem 14. und 15. Jahrhundert im Chor sowie ein schlichter Taufstein beleben das saalartige Schiff. Eva und ich hingen in diesem einfachen Raum unseren eigenen Gedanken nach, drückten uns die Hand – und wiederholten die Prozedur genau 50 Jahre später, am Tag unserer Goldenen Hochzeit. Wiederum war das Kirchlein offen; nur der Organist fehlte diesmal. Doch wussten wir die Qualitäten der Ruhe zu schätzen. Dieser Platz für Erinnerungen an gemeinsame Freuden, an Auseinandersetzungen, an ein andauerndes Neugestalten der Zweisamkeit war ideal. 50 Jahre. War das lang, kurz? Das Leben hat uns alles gegeben, was es zur Erfüllung braucht. Eine glückliche Zeit mit der richtigen Dauer.
 
Damals, während unserer ersten gemeinsamen Jahre, wurde noch nicht die erstbeste Verstimmung zum Anlass für eine Scheidung genommen; das Eheversprechen war einzuhalten. Wenn ich etwas verspreche, halte ich es, ob es nun Freude macht oder eine Durchhalteübung bedeutet. Ich stand 1963 gerade vor dem Wechsel des Arbeitsplatzes – vom lokalen „Wynentaler-Blatt“ zum kantonalen „Aargauer Tagblatt“ (November 1963). Die lokale Politik, der Zwang zum Beschreiben von Aktualitäten und zum Kommentieren überlagerte häusliche Kleinigkeiten.
 
1966 und 1967 erweiterten 2 reizende Töchter unsere Familie. Und dadurch bestand die erste Dringlichkeit darin, ihnen ein sicheres Zuhause als Orientierungs- und Fixpunkt in ihrem Leben zu garantieren. Spass, Neckereien, Gehirntraining – alle fühlten sich wohl, in liebevoller Verbundenheit. Es war nie langweilig. Das Aufwachsen der Kinder rief uns die eigene Jugend ins Bewusstsein zurück. Mit den Jahren erkennt man, dass es nur so viel Himmel auf Erden geben kann, wie man in gemeinsamer Anstrengung selber zu schaffen vermag. Wie beim Geröll eines ungestümen Bergbachs schleifen sich beim Zusammenleben Ecken und Kanten schnell ab, und das Gewässer fliesst ruhiger, beschaulicher dahin, was zu vertieften Einsichten führen kann; das ist kein Verarmen. Man wird älter, wird alt, ermüdet etwas schneller und ist (auf Gegenseitigkeit) froh, dass noch jemand im Hause ist, der alle seine Marotten kennt und akzeptiert. Man ist und bleibt für einander da. Ein normaler Ablauf, unspektakulär, nicht der Rede wert, wenn auch vielleicht aus heutiger Sicht nicht mehr ganz zeitgemäss.
 
Der Seerenbachfall
Der Zeitenlauf, der nicht aufgehalten werden kann, rinnt wie der Sand in einer Sanduhr durch eine enge Öffnung, bis das obere Reservoir leer ist. Man kann die vorbeiziehenden Lebensjahre nicht wie eine Sanduhr einfach umdrehen und wieder von vorn anfangen. Was zerronnen ist, ist und bleibt zerronnen. Das lehrte auch ein Blick von der nahen Umgebung des Kirchleins Obstalden hinüber zu den schroffen Felsen, mit denen die Churfirsten beginnen. Dort drüben fällt der Seerenbachfall als höchster Wasserfall der Schweiz in 3 Stufen in kühnen Sprüngen total 585 Meter in die Tiefe. Die Schneeschmelze belebte bei unserem jüngsten Ausflug auf den Beobachtungsposten Obstalden das Geschehen in den gegenüberliegenden Kaskaden, und im trockenen Sommer können die Wasserfälle ebenso wie die Rinquelle im untersten Sektor versiegen. Der Vorteil hier: Niederschläge sorgen irgendwann für Nachschub.
 
Am Salatbuffet
Man vollziehe also seine kleinen und grossen Sprünge, solange noch das Zubehör dafür vorhanden ist. Und einen solchen Sprung unternahmen wir zur Glarner Autobahnraststätte „Marché Niederurnen“. Dort deckten wir uns mit einem grossen Teller mit verschiedenen Salaten, wie einem Salat aus blanchiertem Lauch, und würzigen Saucen ein. Es lag uns daran, Sättigungsgefühle im Zaume zu halten, denn für den Abend hatte ich 2 Plätze im Land-Hotel „Hirschen“ in Obererlinsbach reserviert (www.hirschen-erlinsbach.ch). Nach einem 50-jährigen Kochmarathon sollte die Frau wieder einmal vom häuslichen Gasherd erlöst werden, wobei allerdings das Kochen für uns beide zu den lustvollen, schöpferischen Tätigkeiten gehört – oft balgen wir uns darum, wer kochen darf.
 
Im Erlinsbacher „Hirschen“
Beim Eindunkeln hatten wir den „Hirschen“ erreicht. Im geräumigen Weinkeller, wo ein schwaches Cheminéefeuer brannte, fiel mir sogleich eine Flasche Bollinger Champagner auf, die gerade ins Konzept passte – ein grosser Wein für einen grossen Tag. Bis jetzt habe ich noch keinen Champagner mit vergleichbaren Feinheiten, von einem derartigen, aufeinander abgestimmten Nuancenreichtum und anhaltendem Nachgeschmack getrunken. Der goldene, mit einem Hauch von Kupfer unterlegte Farbton passte zur Goldenen Hochzeit.
 
Droben im geräumigen Speiserestaurant konnten wir den reservierten, grosszügigen runden Tisch belegen. An den Wänden hingen dekorative Bilder mit Blumenmotiven, geschaffen von UH-Art, das heisst von der seit 1983 in der Schweiz ansässigen Kanadierin Ursula Vonhuben-Hess, die nicht mit uns verwandt ist. Ihr Lebensmotto: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum.“
 
So fanden wir neben dem Bild „Mohn im Wind“ zur traumhaften gastronomischen Wirklichkeit zurück und einigten uns auf ein 4-Gang-Menu aus Zutaten aus der ProSpecieRara-Philosophie, welcher der Wirt Albi von Felten zugetan ist; ihm als genussfreudigem Menschen liegt an der Qualität und Herkunft der Lebensmittel. Er bevorzugt regionale Produkte, widmet sein Augenmerk bedrohten Sorten und Arten von Nutzpflanzen und Nutztieren, die nur erhalten werden können, wenn es dafür Abnehmer gibt. Verantwortungsvolle Bauern produzieren sozusagen im Abonnement für die „Hirschen“-Küche. Und dort werden die ganzen Tiere fantasievoll verwertet. So wurden uns zum Brot zuerst statt Butter ein wohlschmeckendes Gemisch aus Schweineschmalz, Äpfeln und Zwiebeln sowie ein Zwetschgen-Chutney aufgetischt.
 
Für den eigentlichen Auftakt sorgte  eine Lauchterrine mit Siedfleisch, umgeben von einem Rüeblimantel, der wie Lachs aussah. Auf einer schwarzen Schieferplatte waren Salatblätter und Baumnüsse mit einer Sauce aus Essig, Öl und „Speuzer“ (mundartlich: Erlinsbacher) Bier sowie etwas Kerbel schön arrangiert. Etwas mutig mutete das Gelberbsen-Crèmesüppchen mit Speckglacé an. Der mit Engagement arbeitende Kellner, Luca Rosson, in Moutier BE aufgewachsen, empfahl uns, zuerst das Süppchen, dann das Glacé und schliesslich beides zusammen zu degustieren. Die Kombination kam bei uns am besten an – zurückhaltend gewürzt, das rauchige Speckaroma war unaufdringlich und eigentlich eine geschickte Überleitung zum Fleischgang: „Variation vom Rhätischen Grauvieh an Quittenbalsamjus“, umgarnt von sautierten Schwarzwurzeln und einem Püree aus blauen Kartoffeln mit einem Stich ins Bräunliche. Naturfarben lassen sich nicht so leicht zähmen.
 
Das Grauvieh aus dem Bündnerland, mit dem wir uns unserer eigenen grauen Haare wegen solidarisieren, dürfte zum Teil bis auf das Torfrind der Pfahlbauer und grauen Tieren, welche die Rätier aus Italien mitbrachten, zurückgehen. Diese rare Viehrasse war bis 1920 im Bündnerland als Dreinutzungstiere (Arbeit, Milch, Fleisch) stark verbreitet, ging dann aber in der Braunviehpopulation beinahe unter (Quelle:
 
Die anspruchslosen Tiere wurden von ProSpecieRara auf extensiven Weiden im Berggebiet wieder etabliert, bevor sie ausstarben, und gefördert. Das Fleisch ist gut im Biss, schmackhaft, ein Hinweis auf die Robustheit der Bündner. Wir genossen auch die exquisite, kraft- und saftvolle dunkle Sauce.
 
Die Gänge wurden in angenehmen zeitlichen Abfolgen aufgetragen, so dass man das Gefühl hatte, hier während längerer Zeit willkommen zu sein – eine Langsam- statt Schnellabfertigung. Ein festliches Essen darf Zeit verbrauchen – sie ist nicht verloren. Wir besprachen die Qualitäten und Zubereitungsarten, stellten Fragen, und wenn das Servierpersonal nicht weiter wusste, beschaffte es die Informationen in der Küche.
 
Eine der starken Seiten des „Hirschens“ ist das auserlesene Weinangebot; laut Alibi von Felten hat sein Haus gerade eine Auszeichnung für die beste Weinkarte im Bereich Landgasthof erhalten. Weinkarten, die übersichtlich sein und Details bekanntgeben müssen, enthüllen manches über die Güte eines Restaurants und das gastronomische Verständnis des Wirts. Eine gute Karte bietet nicht nur teure, berühmte Weine, sondern auch günstigere, auserlesene Gewächse bester Jahrgänge aus der näheren und ferneren Welt an, die ihren Preis mehr als rechtfertigen. So entschied ich mich für einen Saint-Saphorin Valdensis (2008) von Les Frères Bovy in Chebres VD, eine sorgfältige, gefällige Mischung aus Gamaret, Garanoir, Diolinoir, Merlot und Cabernet-Sauvignon, die dann an Korpulenz meine Vorahnungen übertraf (12.5 Volumenprozente), gleichwohl fruchtig war und uns in angemessener Art durch den Abend begleitete (64 CHF).
 
Nichts mit diesem Wein zu tun hatte das Dessert, das von Passionsfruchtcrème mit Espuma (spanisch für Schaum) eingeleitet und dann mit einem Quittentörtli mit Sternanis-Glacé fortgesetzt wurde, erfrischend, leicht, bekömmlich und mit einem Hauch von Exotik, eine Dimension, die den lobenswerten Regionalismus erweitert.
 
Könnerschaft bekundet auch das Sortiment auf dem Spirituosenwagen, nicht allein wegen der Produkte der Malt Whisky Society. Nach dem Torfrind und der Speckglacé schien mir die Flasche 14.174 (14 bezeichnet das Fass) eine Sünde wert zu sein. Ich probierte den Whisky pur, dann auf Empfehlung des Kellners mit einem Tropfen Wasser. Dieser Zuschuss brachte das Bouquet tatsächlich noch zum Aufblühen.
 
Wir reisten dann heimzu; auf meine im Alkoholkonsum zurückhaltende Chauffeuse war Verlass. Daheim blühten die 20 goldfarbenen Havelaar-Rosen, die ich hatte auftreiben können – pro 2.5 Ehejahre eine.
 
 
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