Textatelier
BLOG vom: 18.12.2012

Patientenmissbrauch: Zu viele einträgliche Operationen

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Diese Meldung gab es zwar in diesem Jahr schon, aber als „Weihnachtsgeschenk“ fehlte sie noch. „In Deutschland wird zu viel operiert!“ Dieses Mal ist es eine AOK-Studie (AOK = Allgemeine Ortskrankenkasse, ein loser Zusammenschluss von Krankenkassen), die uns diese „Überraschung“ präsentiert.
 
Diese Meldung ist alles andere als neu; sie taucht jährlich mindestens einmal auf. Im Internet habe ich sie bis 1999 zurückverfolgt (was bemerkenswert ist, damals gab es das Internet zwar schon, es war aber noch nicht so verbreitet). Die Nachricht erscheint vor dem Hintergrund des Klagelieds von Krankenkassen, dass es zu viele Krankenhäuser gebe und dass viele ambulante Operationen statt in Arztpraxen in Krankenhäusern durchgeführt würden.
 
Krankenhäuser sind, wie Arztpraxen auch, Wirtschaftsbetriebe, in die Wirtschaft eingebundene Unternehmen. Sie wollen und müssen einen Überschuss produzieren. So vernimmt man bei Tarifverhandlungen vonseiten der Krankenkassen jeweils den Hinweis, dass kaum mehr Ertrag zu erwirtschaften sei, um die Kostenerhöhungen bezahlen zu können.
 
Auch das Gesundheitssystem (bzw. das Krankheitssystem) ist dem wirtschaftlichen Diktat des Prinzips von Angebot und Nachfrage unterworfen. Dabei wird die Nachfrage nach Operationsleistungen durch diejenigen gesteuert, die über Fachwissen verfügen, also durch die Ärzte. Diese haben natürlich ein Interesse daran, so viel wie möglich zu operieren, selbst wenn sie dem Postulat unterworfen sind, „nur das Beste für den Patienten“ zu tun. Die Praxis folgt ihren eigenen Gesetzmässigkeiten.
 
Krankenkassen sammeln von Staat (also vom Steueraufkommen), von Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Geld ein, das von ihnen anschliessend verteilt wird, soweit sie es nicht für die eigenen administrativen Zwecke benötigen. Dabei wollen viele an diesem Kuchen knabbern, nicht nur Ärzte und Krankenhäuser, sondern auch Apotheken und damit die Pharmaindustrie, sowie viele andere, die ausserhalb der Krankenhäuser Gesundheitsleistungen anbieten, die von den Kassen übernommen werden, beispielsweise Physiotherapeuten, Logopädisten, usw.
 
Wenn ein Zweig zu viele Gelder abfragt, müssen andere mit weniger auskommen. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Bevölkerung insgesamt älter wird, dass weniger Beitragszahler mehr Rentner und Nichtzahler subventionieren müssen und dass der Staat nicht unbegrenzt den Etat „Soziale Leistungen“ erhöhen kann, der schon jetzt einer der höchsten im Bundeshaushalt ist.
 
Bei Hüftoperationen sei Deutschland gar Europameister, erfährt man aus den Medien. Schon kommt der Gesundheitsminister auf die naheliegende Idee, den Krankenhäusern das Geschäft zu vermiesen und zu viel operierenden Ärzten und Krankenhäusern Gelder kürzen zu wollen. Davon würden auch die oft genug unnötigerweise verstümmelten Patienten profitieren.
 
Krankenkassen bieten den Patienten an, „eine 2. Meinung“ auf ihre Kosten einholen zu dürfen. Dabei könnte man denken „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, also wird – ausser bei wirklich strittigen Krankheitsbildern – auch „die 2. Meinung“ eine Operation empfehlen. Es würde mich jedenfalls sehr wundern, wenn das anders sein sollte.
 
Es ist bereits die Regel in deutschen Arztpraxen, dass dort auf privat zu bezahlende Zusatzleistungen hingewiesen wird, die auch häufig Operationen umfassen. Auch diese fliessen in die Gesamtzahl der Operationen ein, wie Brustverkleinerungen oder -vergrösserungen, Schönheitsoperationen und vieles mehr. So wollte mir ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt eine Nasenscheidewandoperation aufschwatzen, auf dass ich dadurch mehr Luft bekommen würde. Lustig war, dass er mich dabei prüfend ansah und meinte, so wie er mich einschätze, würde ich der Empfehlung bestimmt nicht zustimmen. Womit er recht hatte! Neben seiner Praxis operiert er natürlich auch selber im Krankenhaus.
 
Krankenhäuser müssen wegen des höheren personellen Aufwands und der höheren Sachkosten allgemein einen höheren Satz für operationelle Leistungen fordern als wenn diese in Arztpraxen durchgeführt würden. Allgemeinmediziner in den Niederlanden beispielsweise führen kleine Operationen in der eigenen Praxis vor Ort durch. Warum das in Deutschland nicht möglich sein soll, weiss ich nicht.
 
Die Nachfrage nach Operationen wird jedenfalls angekurbelt. Häufig wird die Operation als das letzte Mittel zur Beseitigung oder zumindest zur Linderung der Leiden gepriesen. Das ist nicht immer unumstritten.
 
Der moderne, mündiger gewordene Patient verlangt nicht nur die 2. Meinung, er informiert sich auch im Internet in den verschiedensten Foren über seine Krankheit und über die Therapieangebote. Dabei wird er häufig verunsichert: Der eine Arzt befürwortet die Operation, der andere nicht, der eine Patient (oder gar der Angehörige) verteufelt sie, und der nächste meint, es wäre eine gute Entscheidung, ihr zugestimmt zu haben. Mit diesen konträren Informationen geht der Erkrankte dann zum Arzt seines Vertrauens und hofft auf eine Meinung, die direkt auf ihn persönlich bezogen ist. Dabei wird die Meinung des Arztes über alle anderen Informationen gestellt, die der Patient eingeholt hat. Der Arzt will natürlich dem Patienten helfen; er will aber auch verdienen und andere im Gesundheitssystem mitverdienen lassen. Ob er an der Überweisung ins Krankenhaus ebenfalls verdient, weiss ich nicht, wundere mich aber darüber, dass Ärzte immer wieder ganz bestimmte Krankenhäuser oder andere Anbieter gesundheitlicher Leistungen empfehlen.
 
Es wird nicht lange dauern, bis uns die Medien schon wieder erzählen werden, dass zu viel operiert werde, die Deutschen zu häufig zum Arzt gingen und zu viele Medikamente einnehmen würden. Und sie würden zu alt und seien deshalb leidend, müssten also häufiger operiert werden, noch mehr Tabletten schlucken und noch häufiger zum Arzt gehen, heisst es, und, und, und ...
 
... schon kann man dieses Blog wieder von oben zu lesen beginnen, denn die Schlange beisst sich in den Schwanz.
 
Was uns die Medien nicht oder äusserst selten erzählen: Ohne das überbordende Gesundheitssystem ginge es nicht nur den vielen dort Beschäftigten verdammt schlecht! Das System krankt an seinen eigenen Gesetzen.
 
Bleiben Sie kritisch und gesund, aber nicht „zu“ gesund ...
 
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