Textatelier
BLOG vom: 06.12.2012

Alpentraum in der Schweiz – Albtraum in England ...

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Am 4.12.2012 besuchte ich die Schweizer Botschaft in London. Das staatliche Pensionsamt (AHV) wollte wissen, ob meine Frau Lily und ich noch am Leben seien … Alljährlich müssen wir das Formular ausfüllen und beglaubigen lassen. Lily hat das ihrerseits bereits erledigt. So zeigte ich diesmal beim Schalter meinen Schweizer Pass. Die Formalität war in einer Minute erledigt.
 
Alpentraum – ein Fotoalbum der Schweizer Bergwelt
Beim Ausgang der Botschaft sah ich einen mit allerlei Druckmaterial bedecken Tisch mit der Aufforderung „Help yourself!“ (Bedienen Sie sich!). So bediente ich mich und griff nach dem einzigen aufliegenden Exemplar von Beat Pressers Alpentraum, vom Christoph Merian Verlag veröffentlicht. War dieses Fotoalbum wirklich ein Gratisexemplar? fragte ich mich später, als ich es zuhause durchblätterte. So will ich dieses „Gratisexemplar“ mit einer kurzen Buchbesprechung verdanken.
 
Beat Presser, 1953 in Basel geboren, ist ein namhafter und international bekannter Fotograf. Die englische Ausgabe dieses sorgfältig gestalteten Albums enthält 90 wunderbare, ganzseitige Schwarz-Weiss Aufnahmen, worunter viele im Winter fotografierte, die meine Sehnsucht nach den Schweizer Bergen aufflackern liess. Die Begleittexte zu den Bildern stammen teils von Schweizer Autoren wie Johann Peter Hebel, Hugo Loetscher, Peter Bichsel, Piero Bianconi, Friedrich Dürrenmatt, Jürg Federspiel, Robert Walser – und teils von ausländischen Schriftstellern, worunter Lord Byron, Johann Wolfgang von Goethe, Ernest Hemingway, Franz Kafka u. a. m.
 
Diese Meisterfotos zeigen den Aletschgletscher, einen Schneesturm bei Klosters, den Pilatus, einen Steinbock auf dem Greinapass, eine Alp im Simmental (mit einem Käser und einer alten Bäuerin mit lebhaften Augen, verschmitzt lächelnd), die Viamala-Schlucht. Dieses Werk wird auf dem weihnächtlichen Gabentisch für meine Söhne aufliegen!
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Albtraum in England
Anderntags, am 5.12.2012, bannte mich die fettgedruckte Schlagzeile der Gratiszeitung Metro: „Third World Britain“. Eine wachsende Zahl der in Not geratenen Briten decken sich mit Lebensmitteln, meistens Konserven, ein, die ihnen von den „food banks“ ausgehändigt werden. Viele darben und hungern, von einem Hungerlohn abgespeist. Sie haben kein Geld mehr, um ihre Familien zu ernähren. Darunter sind auch viele ältere Leute. Insgesamt wird geschätzt, dass dieses Jahr mehr als 220 000 Leute diese „food banks“ aufsuchen werden. Eine 59-jährige Frau ging zu Fuss je 10 Meilen, zum Lebensmittellager, und 10 Meilen zurück, vom Regen ganz durchnässt. Eine andere Frau, 42 Jahre alt, litt an Arthritis und ging 12 Meilen; denn sie konnte sich die Kosten für die Busfahrt von £ 5.70 nicht leisten. Die von Jahr zu Jahr steigenden Transportkosten sind für viele Leute unerschwinglich geworden. Sie frieren in ihren Wohnungen, denn auch die Heizkosten sind in die Höhe geklettert. Obendrein werden die Sozialzulagen gekürzt, worunter auch die Kinderzulagen.
 
Wie alle Jahre wieder, finden die Obdachlosen kurzfristig Unterschlupf über Weihnachten und Neujahr in Asylen, ehe sie in den Winter entlassen werden. Sie sichern ihr karges Essen in den von Wohlfahrtsorganisationen eingerichteten Suppenküchen, abseits von den Touristen …
 
Gleichentags präsentierte der Kanzler George Osborne sein Herbstbudget. Er bestand darauf, dass sein „benefit squeeze“ (Kürzung der Sozialleistungen) gerechtfertigt sei, damit sich die Leute Stellen sichern, wohlbemerkt zu mageren Löhnen, und Steuern einbringen. Er vergass dabei, zu erwähnen, dass ein akuter Stellenmangel herrscht! Die Rezession im tief verschuldeten Land werde weiter 6 Jahre andauern, wird berichtet.
 
Wirklich: Die Engländer haben Pech mit ihren Parteipolitikern. So schlittert das Land von einer Krise und von einem Skandal in die/den andere(n), währenddem Politiker ihre Taschen mit fingierten Ausgaben vollstopfen. Bei Weitem wurden nicht alle dabei erwischt. Inzwischen wurden immerhin viele Schlupflöcher gestopft.
 
Milliarden fliessen in Kriege, von Falkland über Irak und Afghanistan. Diese kriegerische Grossmannssucht treibt das Land tiefer in den finanziellen Abgrund. Die Waffenlieferanten machen tolle Geschäfte und liefern ihr Arsenal an korrupte Diktatoren weltweit.
 
Die Olympiade hat ebenfalls ein Vermögen verschlungen, weitgehend auf Kosten der Steuerzahler. Jetzt wird um den Nachlass der Stadien gezankt.
 
Die Wirtschaft soll mit teuren Infrastrukturprojekten angetrieben werden. Erschwingliche Wohnungen hingegen haben dabei kaum einen Stellenwert. Der Mietwucher verschärft sich besonders in London. Öffentliche Bibliotheken werden schlicht und einfach geschlossen, desgleichen viele Notfallstationen der Spitäler. Überall werden Stellen im öffentlichen Sektor abgebaut. Das Spitalpersonal wird davon nicht verschont. In etlichen Pflegeheimen wurden Patienten bar jeder Würde brutal behandelt. Erst jetzt wird dagegen eingeschritten. Hoch lebe in diesem Fall die Pressefreiheit!
 
Anderseits darf sich das Volk am Jubiläum der Königin erfreuen. Die „morning sickness“ (Schwangerschaftsübelkeit) der Duchess of Cambridge liefert laufend Schlagzeilen. Der Massensport beherrscht alle Medien. Das alles lenkt die Bevölkerung von ihrer Misère ab, währenddem sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiterhin weitet. Viele Leute haben gegen Monatsende kein Geld mehr in der Haushaltskasse und nehmen zu horrenden Zinssätzen Überbrückungskredite auf, und graben sich dabei tiefer ins Schuldenloch.
 
Der Ausdruck „Albtraum“ für solch besorgniserregende Zustände scheint mir durchaus gerechtfertigt. Leider.
 
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