Textatelier
BLOG vom: 28.08.2012

Augenblicke wie in den Ferien, unweit von zu Hause weg

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Zürich ist eine grosse Baustelle geworden. In vielen Quartieren muss Altes verschwinden. Das sogenannt verdichtete Bauen erfindet Zürich ausserhalb der Altstadt neu.
 
Auch Zürich-Altstetten ist davon betroffen. Da stehen an der Hohlstrasse aber noch manche alte Schuppen und Scheunen. Ihr Todesurteil ist aber schon gesprochen. Dort ist eine grosse Überbauung geplant. Die hier seit Jahrzehnten angesiedelten Gewerbler mit ihren Hütten und Unterständen müssen verschwinden. Auch grössere Gebäude werden abgebrochen. Primo lud mich ein, mit ihm einen Rundgang zu machen, damit ich das hölzerne Gerippe von 2 Lager- oder Werkstatthallen noch sehen könne. Auf seinem Arbeitsweg kommt er hier täglich vorbei und beobachtet die Veränderungen sehr genau.
 
Die immer noch gut erkennbaren Gebäude sind jetzt aber bis aufs Knochengerüst ausgehöhlt. Die Form noch intakt. Die Verschalung abgenommen und darum jetzt durchsichtig. Eine klassische Zimmermannskonstruktion, in meinen Augen ein Kunstwerk. Vor diesem Knochengerüst aus schmalen Latten stehend, verstand ich das Wort Rückbau sehr gut. Hier findet rücksichtsvoller Abschied statt.
 
Interessant ist es auch, tiefer ins Gelände hinein zu sehen. Seit Jahrzehnten wucherten hier kleine Unterstände und abgedeckte Lagerplätze, für die wohl kaum je eine Baubewilligung beantragt worden ist.
 
Primo hatte aber auch etwas Neues entdeckt. Das Bistro METRO an der Hohlstrasse. Eine städtische Form von Gartenwirtschaft an einer stark befahrenen Autostrasse. Mit überdachten Plätzen im Freien. Abgeschirmt durch Gebüsche in Töpfen. Begrenzt mit einem militärischen Tarnnetz. Dahin wurde ich zum Mittagessen eingeladen. Ich fühlte mich wie in den Ferien. An einem bisher unbekannten Ort, nur 10 Minuten Velofahrt von unserem Zuhause entfernt. Gast bei einem türkischen Ehepaar, das uns grillierte Lammspiesse mit Pfefferschoten, Couscous, griechischen Salat und frische Brötchen auftrug.
 
Während wir aufs Essen warteten, fuhr eine amerikanische Limousine vor das Nachbargebäude, das als Automobil AG (Garage, Autospenglerei, Autospritzwerk und Pneuhaus) gekennzeichnet war. Sofort standen junge Männer von ihren Tischen auf, gingen hinüber, umkreisten den „Schlitten“. Solche Oldtimer sieht man heute selten. Und wer sie fährt, wird bewundert. Die Männer aus dem Gasthaus stützten die Hände in die Hüfte und markierten mit einem vorgestellten Bein imaginären Besitzerstolz. Offensichtlich ein Traum für sie. Sie umkreisten das prachtvolle Gefährt und taxierten es.
 
Kaum waren sie an ihre Plätze in der Gartenwirtschaft zurückgekommen, lagen auf der Kühlerhaube Klebband, Schere, Tüllstreifen, Rosaband und verschiedene Schnittblumen, die, an die hintere Fensterscheibe angelehnt, den Fond des Wagens festlich schmücken mussten. Blumen auch für die Front am Gitter der Kühlerhaube. Das Rosaband konnte zu einem Bouquet gekräuselt werden und wurde auf die Kühlerhaube geklebt.
 
Ich sah noch, wie der Autoverleiher die Tüllstreifen zurechtschnitt, sie an jede Türe band und Wind simulierte, um die Wirkung zu überprüfen. Dann war die hellblaue Hochzeitslimousine für den grossen Auftritt bereit und plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.
 
Wir wurden abgelenkt, schauten zu, wie am Grill hantiert wurde. Ein junger Mann belebte die Glut mit einem alten Haarföhn. Es knisterte. Kleine Funken sprangen auf. Und sofort sah ich mich als Primarschülerin in der Stube in meinem Elternhaus. Dort knisterte es auch einmal, jedoch überraschend für mich. Wir heizten mit Holz und Kohle. Über Nacht erlosch das Feuer jeweils. An einem solchen Wintermorgen musste ich die Stube staubsaugen und wollte die Arbeit ganz besonders gut machen. Ich reinigte auch den Ofen, sog die Asche mit dem Staubsauger auf. Die Luft entflammte die restliche, noch vorhandene Glut ... den Rest kann man sich denken. Der Stoffsack im Staubsauger verbrannte. Es stank fürchterlich.
 
Selbstverständlich wurde ich entsprechend gerügt. Wie genau, weiss ich nicht mehr. Aber dass meine Idee sehr dumm war, das habe ich schon damals begriffen und darum nie vergessen.
 
Als sich der Wirt erkundigte, ob uns das Essen geschmeckt habe, stimmten wir zu, und ich sagte, ich fühle mich hier in den Ferien. Das freute ihn. Damit wir sein Bistro in guter Erinnerung behalten, wurde uns noch ein Bittermandel-Likör offeriert.
 
Dann führte mich Primo ins hintere, an die Bahngeleise angrenzendes Gelände. Hier erkannte ich verschiedene Fotosequenzen, die er kürzlich heimgebracht hatte. Ganz besonders hat uns dann auch das verwitterte, dunkle Holzhaus gefallen, an dem eine SBB-Stationstafel „Zürich-Flughafen“ angebracht war. Auf dem Dach flattert, hoch oben an einem Mast, eine einfache hellblaue ausgefranste Fahne.
 
Später ist mir aufgefallen, dass die Hohlstrasse nicht nur eine stark befahrene Ausfallstrasse ist, sondern auch eine Allee. Es sind dort über eine grosse Strecke viele Rosskastanien-Bäume gewachsen; sie weisen ein respektables Alter aus.
 
Auch auf der anderen Strassenseite existiert noch ein altes Eldorado ähnlicher Art. Primo ist auch mit ihm vertraut, hatte dort im Laufe seines Berufslebens mit Handwerkern, Künstlern und Gewerbetreibenden zu tun.
 
Wir fragen uns, wohin die Menschen ziehen werden, wenn auch gegenüber Häuser, Hallen und Schuppen abgebrochen werden müssen.
 
Und ob es dann in den zu erwartenden Bürokomplexen nur noch sterile Gaststätten gibt, keine improvisierten Gartenwirtschaften mehr, wie wir dieser Tage eine kennengelernt haben.
 
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