Textatelier
BLOG vom: 23.08.2012

Aletschgletscher-Überquerung: Vorsicht Gletscherspalten!

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Als ich am 15.08.2012 die Meldung in der Presse las, dass ein Bergsteiger aus Bayern in den österreichischen Alpen in eine 20 m tiefe Geltscherspalte gefallen sei, kam mir meine Überquerung des Aletschgletschers vor 26 Jahren in den Sinn. Darüber möchte ich weiter unten berichten (mit aktuellen Zahlen zum Gletscherrückgang).
 
Der Mann, der alleine unterwegs war, wurde glücklicherweise nach 6 Tagen gerettet, litt aber an einer Unterkühlung. Der 70-jährige Bayer verstiess gegen die 2 Bergsteiger-Grundregeln: „Auf dem Gletscher ist man nie alleine unterwegs und immer angeseilt.“
 
Der Wirt des Westfalenhauses, eine Hütte des Deutschen Alpenvereins, berichtete, der Mann habe einen rüstigen Eindruck hinterlassen und erweckte den Eindruck, er wisse schon, was er tue. Nun tat er allerdings nicht das Richtige. „Die meisten, die in Gletscherspalten fallen, sind tot“, sagte der Ausbildungsleiter der Tiroler Bergrettung, Peter Veider.
 
3 andere Bergsteiger hörten Hilferufe des Abgestürzten. Diese alarmierten dann die Bergrettung. Mit Seilen wurde der völlig durchnässte Mann mit einer Körpertemperatur von 34 °C aus der Spalte befreit. Er wurde dann per Hubschrauber in die Intensivstation der Uniklinik Innsbruck gebracht. Dort wurde ein Hüftbruch diagnostiziert. Wie am 16.08.2012 berichtet wurde, ist der abgestürzte Bergsteiger ansonsten wohlauf.
 
Laut dpa (Meldungen in den Zeitungen vom 20.08.2012 publiziert) hat der Mann regungslos auf einem Schneevorsprung in der Spalte ausgeharrt, um nicht abzurutschen. Er trank Schmelzwasser und ernährte sich von einem bisschen Schokolade. Manfred Walter, so hiess der Abgestürzte, erzählte, er habe sehr viel gebetet, an seine Söhne und Enkelkinder gedacht und die Hoffnung nie aufgegeben. Die letzten 3 Tage war er in einem Dämmerzustand und träumte von Obst in der Dose. Schmerzen habe er nicht gespürt. Zwischen 10 und 16 Uhr habe er um Hilfe gerufen.
 
Phantastische Fernsicht
Ich unternahm 1986 mit Toni Fitting, unserem heutigen Wanderführer, Wanderungen im Gebiet des 23,1 km langen Grossen Aletschgletschers (Eismenge: 27 Milliarden Tonnen). In 2 Folgen beschrieb ich meine Erlebnisse in der damals von Walter Hess geleiteten Zeitschrift „Natürlich“. Einige Auszüge daraus werde ich in diesem Blog präsentieren.
 
Das Aletschgebiet ist eines der grandiosesten und schönsten Wanderziele der Schweiz. Von Mörel (heute zu Mörel-Filet fusioniert) im Wallis brachte uns eine Grosskabinenbahn zur Riederalp (www.riederalp.ch), wo wir unser Quartier im Gasthof „Toni“ aufsuchten. Auf diesem Hochplateau – in Reiseprospekten als die „autofreie Sonnenterrasse der Schweiz“ gepriesen – waren früher Viehalpen. Auf der Bettmeralp (www.bettmeralp.ch) begann der Tourismus 1930. Noch 1950 mussten Personen und Gepäck mit Maultieren auf die Alp transportiert werden. Der Massentourismus setzte mit dem Bau mehrerer Seilbahnen ein.
 
Als wohltuend empfanden wir die Stille, die nur durch Kuhglockengebimmel unterbrochen wurde. Wohltuend war auch die würzige und anregende Höhenluft, phantastisch die Fernsicht über das Rhonetal hinweg zur Simplonstrasse und zu den mächtigen Viertausendern der Mischabel-Gruppe. Die schneebedeckten Gipfel des Weisshorns, des Doms und des Matterhorns hinterliessen einen unvergesslichen Eindruck.
 
Auf der anderen Seite, hinter der Hohfluh, ist die grosse Eisstrasse des Grossen Aletschgletschers zu sehen. Zauberhaft ist das Wanderparadies entlang des Gletschers. Die Höhepunkte sind der Aletschwald, das Bettmerhorn (2643 m), das Eggishorn (2926  m) und der Märjelensee. Das Eggishorn ist eine der schönsten Aussichtskanzeln der Schweiz. Von hier hat man einen faszinierenden Blick auf den tief unten liegenden Grossen Aletschgletscher und auf die mächtigen Berge Eiger, Mönch und Jungfrau.
 
Höhepunkt der Wanderwoche war die Gletscherüberquerung. Die Tour führte durch den Aletschwald, über den Gletscher zum Gletscherrand „Zenbächen“ und zurück zu den Katzenlöchern.
 
Ab Villa Cassel
Ausgangspunkt der Tour war die Villa Cassel. Das um die Jahrhundertwende vom reichen Engländer Sir Ernest Cassel (1852−1921) erbaute Gebäude war zuerst eine Sommerresidenz und beherbergte illustre Gäste, u. a. Winston Churchill. Cassels Enkelin Edwina, die spätere Lady Mountbatten und Vizekönigin von Indien, verbrachte hier oft ihre Ferien. Später wurde die Villa als Hotel geführt. 1973 kauft sie der Schweizerische Bund für Naturschutz (SBN).
 
Die heutige Bezeichnung lautet: „Pro Natura Zentrum Aletsch“ (siehe Internetadressen am Schluss). In diesem Zentrum kann man eine Ausstellung besuchen und den Alpengarten besichtigen. Der Alpengarten gehört übrigens zu den schönsten der Schweiz. Angeboten werden u. a. geführte Exkursionen, Weiterbildungen, alpines Kino-Openair und Ferien wie zu Cassels Zeiten.
 
Das Naturschutzgebiet Aletschwald und der Grosse Aletschgletscher gehören schon seit einigen Jahren zum UNESCO-Welterbe „Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch“.
 
Durch einen einzigartigen Wald
Eine Botanikerin von SBN (Pro natura) und ein Führer von der Bergsteigerschule Riederalp nahmen uns unterhalb der Villa Cassel in Empfang. Von den kompetenten Leuten erfuhren wir interessante Fakten über den Aletschwald und den Gletscher. Auf dem Weg zum Gletscher durchquerten wir den in Europa einzigartigen Aletschwald. Bis zu einer Höhe von 2200 m (Gipfel des Riederhorns) erstreckt sich der Wald. Seit 75 Jahren steht der Aletschwald unter Naturschutz. Kein Baum darf gefällt werden.
 
In höheren Lagen finden wir Fichten und den beständigsten Baum der Alpenregion, die Arve; in tieferen Lagen herrscht die Lärche vor. Viele Arven haben das stolze Alter von 900 Jahren erreicht (die Arven sind die ältesten Bäume der Schweiz!). Die sehr widerstandsfähigen Bäume trotzen jedem Sturm, Eis und Schnee. Sie können Temperaturen von 40 °C unter Null aushalten. Den Überlebenskampf sieht man besonders an älteren Exemplaren. Sie sind zerzaust, gekrümmt und weisen beträchtliche Rindenverletzungen auf.
 
Der Bischof schwitzte und stöhnte
Nach kurzer Wanderung erreichten wir den „Bischofssitz“. Der Name wurde wie folgt geboren: Ein Freund des Engländers Cassel, ein Bischof, sollte durch den Aletschwald ins weiter unten befindliche Teehaus geführt werden. Der sehr beleibte Bischof schaffte es nicht bis zum Ziel. Schweissgebadet und stöhnend liess er sich unterwegs nieder und weigerte sich, weiterzugehen. Von nun an hiess der Platz „Bischofssitz“.
 
Jeder Naturfreund gerät ins Entzücken, wenn er den Bischofssitz betritt. Von hier hat er nämlich den ersten Blick auf den gewaltigen Eisstrom des Grossen Aletschgletschers. Besonders auffällig ist die tiefe Lage des Gletschers. Die Gletscherzunge befindet sich nämlich auf 1500 m ü. M. In den Alpen gibt es keinen so tief gelegenen Gletscher.
 
Auf die Frage „Wie gross ist die Eisdicke“, antwortete unser Führer, dass am Jungfraujoch das Eis 130 m, am Konkordiaplatz 1000 m und an der Konkordiahütte 500 m dick ist. Mit einer Fliessgeschwindigkeit von 185 bis 195 m pro Jahr an der Konkordiahütte, 136 bis 144 m pro Jahr am Märjelensee und 74 bis 86 m pro Jahr in Höhe des Aletschwalds schieben sich die Eismassen talwärts.
 
Die Bewegung des Gletschers kann natürlich kein Mensch sehen. Aber man hört den Gletscher. Er poltert, kracht und ächzt. Steine kullern ständig von den Eisbergen, Wasser strömt aus Spalten, Eisbrocken poltern herab.
 
Nach einer ausgiebigen Rast auf dem „Bischofssitz“ gingen wir weiter. Je tiefer wir stiegen, umso lichter wurde der Wald. Einige 100  m vom Gletscher ist kein Baum mehr zu sehen. Nur Pionierpflanzen fristen ihr karges Dasein.
 
Graue, haushohe Eismassen
Am Rande des Gletschers angelangt, erhielten wir einige Verhaltensregeln. Wir mussten im Gänsemarsch, zunächst noch ohne anzuseilen, dem Führer folgen. Er ging an Quer-, Rand- und Längsspalten vorbei. Ab und zu mussten wir über vielleicht 30 cm breite Gletscherspalten springen. Manche Spalten verursachten bei den Teilnehmern eine Gänsehaut (die grössten Spalten sollen zwischen 30 und 40 m tief sein). Jeder Teilnehmer war froh, als er diese Hindernisse ohne Sturz in die hellblaue Tiefe überwunden hatte.
 
Die Oberfläche des Gletschers war ziemlich rau. Unsere Wanderschuhe fanden vortrefflichen Halt. Ab und zu musste unser Führer mit einem Eispickel Stufen ins Eis schlagen, damit wir kleine Eisberge überwinden konnten.
 
Imposant waren die grauen, haushohen Eismassen auf dem Gletscher. In dieser unheimlichen Eiswüste fielen mir die treffenden Wörter vom deutschen Publizisten Günther Gillessen ein. Er schrieb: „Der Gletscher, der, von oben betrachtet, in majestätischer Ruhe herabzuströmen scheint, verwandelt sich aus der unteren Perspektive in eine stürmische See: In graue, haushohe Wellen, die, wären sie nicht erstarrt, mit fürchterlicher Wucht und Wut herabstürzen würden.“
 
Auf dem Weg nach Zenbächen lernten wir etliche Besonderheiten auf dem Gletscher kennen. Nennen möchte ich die Strudellöcher, Gletschertische und Sandkegel. Die Tische und Kegel entstehen so: Felsblöcke oder dicke Schuttschichten schützen das darunterliegende Eis vor rascher Abschmelzung. Das in der Umgebung befindliche Eis schmilzt schneller ab. So entstehen die Gletschertische und Sandkegel.
 
In der Mitte des Gletschers befand sich eine Ablationsstange. Es handelt sich hier um eine Messstange, mit deren Hilfe die tägliche Eisabtragung gemessen wird. An diesem heissen Sommertag betrug die Abschmelzung 13 cm. Der durchschnittliche jährliche Eisabtrag liegt bei 13 m.
 
Angeseilt über den Gletscher
Nach etwa 90 Minuten erreichten wir unser erstes Etappenziel: Zenbächen. Hier rasteten wir. Nach der Mittagspause wurden 2 Seilschaften zu je 14 Mann bzw. Frau gebildet. Das Anseilen war nötig, weil wir den Gletscher an einer anderen Stelle, wo viele Spalten sind, überqueren wollten. Unser Gletscherführer ging wiederum voran. Das Schlusslicht bildete unsere Botanikerin. Im Gänsemarsch ging es dann über die Eiswüste.
 
Toni war vor mir, und ich reihte mich ziemlich am Schluss ein, da ich mit meiner Mittelformatkamera, die vor mir auf der Brust baumelte, Bilder machen wollte. Fotos konnte ich dann nur schiessen, wenn die Angeschnallten stehen blieben oder die Kolonne ins Stocken geriet.
 
Links und rechts unseres Pfades waren schaurig schöne Gletscherspalten, Strudellöcher und Schmelzwasserbäche. Etwas schwierig gestaltete sich manch ein Auf- und Abstieg in der Eiswelt. Man musste höllisch aufpassen, damit man nicht abrutschte. Manchmal landeten Teilnehmer auf dem Hosenboden. Aber lieber auf dem Hosenboden einen kleinen Abhang hinunterrutschen als in eine tiefe Spalte. Besonders mussten wir darauf achten, dass der Abstand zum Vordermann (es waren vielleicht 5 Meter) immer gleich gehalten wurde.
 
Trotz der intensiven Sonneneinstrahlung kamen wir kaum ins Schwitzen; denn immer wieder wehte eine frische Brise über den Gletscher.
 
Nach wiederum 90 Minuten erreichten wir den Rand des Gletschers in der Nähe der Katzenlöcher (dies sind kleine, milchige, türkisfarbene Gletschertümpel am Rande des Eisstroms). Ein riesiger glattgeschliffener Felsblock versperrte den Weg. Nur mit Mühe und mit Hilfe des Vordermannes konnte das Hindernis überwunden werden. Aufatmen bei allen Teilnehmern, als der eisfreie Boden erreicht wurde.
 
Übrigens sind heute geführte Gletscherwanderungen für 50 CHF (Kinder: 30 CHF) im Angebot (siehe dazu auch die Internet-Adressen am Schluss. Es gibt auch ein kurzes Video).
 
Anhang
Ein Gletscher kommt ins Schwitzen
Von Daniel Walther, Stellvertretender Zentrumsleiter Pro Natura Zentrum Aletsch, wollte ich gern erfahren, wie sich der Gletscher in der Vergangenheit verändert hat. Er übermittelte mir wertvolle Informationen.
 
Laut den Erkenntnissen der ETH Zürich hat sich der Gletscher seit 1870 bis 2010 um 2906 m zurückgezogen. Die Eishöhe hat sich um 300 m verringert.
 
Grund für diesen Rückgang ist die Klimaerwärmung; dadurch kommt jeder Gletscher ins Schwitzen. In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Temperatur weltweit um 0,74 °C erhöht. In der Schweiz betrug die Erhöhung 1,5 °C. Es gab in der Vergangenheit immer wieder natürliche Klimaschwankungen. Eiszeiten liessen die Gletscher wachsen, und in Warmzeiten schmolzen sie teilweise ab. In letzter Zeit ging die Abschmelzung immer rascher vonstatten. Mit Hilfe von Daten der ETH Zürich konnten folgende durchschnittliche Längenverluste pro Jahr festgestellt werden:
 
1870 bis 2008: 24 Meter
1970 bis 2008: 35 Meter
1993 bis 2008: 40 Meter
1998 bis 2008: 52 Meter.
 
Diese Rückzugsgeschwindigkeit gilt als Hinweis auf die heutige Klimaerwärmung. „Diese kann, im Vergleich zu früheren Wärmephasen, nicht mehr ausschliesslich mit natürlichen Ursachen erklärt werden. Seit rund 250 Jahren verändert der Mensch durch die Emission von Treibhausgasen zunehmend die Zusammensetzung der Atmosphäre und verstärkt damit den natürlichen Treibhauseffekt“, wie Fachleute vom Pro Natura Zentrum Aletsch bemerkten.
 
Wir können jedoch etwas gegen die Klimaerwärmung tun. Wir müssen unsere Politik und unser Verhalten entsprechend verändern. Oder wollen wir, dass die Gletscher immer weiter zurückgehen, Störungen im Ökosystem, veränderte Niederschlagsverhältnisse und ein Ansteigen des Meeresspiegels sich immer mehr bemerkbar machen?
 
Internet
(Kurzes Video über die Gletscherüberquerung)
 
Literatur
Scholz, Heinz: „Haushohe Wellen, zu Eis erstarrt“ (Faszinierende Gletscherwelt, Folge 1), „Natürlich“, 1986-7/8.
Scholz, Heinz: „Das Eis lebt“ (Faszinierende Gletscherwelt, Folge 2), „Natürlich“, 1986-9.
 
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