Textatelier
BLOG vom: 14.08.2012

Savoyen 6: Annecy und andere Haupt- und Nebensachen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Eine Savoyen-Exkursion ohne Einbezug von Annecy ist undenkbar. Annecy ist die Hauptstadt von Hochsavoyen. Wir hatten dieses Juwel am Nordufer des etwa 45 m tiefen Lac d’Annecy am späteren Vormittag des 28.07.2012 erreicht, von St-Gervais-les-Bains über Passy, Cluses, Bonneville und La Roche-sur-Foron herkommend. Von der Autobahn (Autoroute Blanche) aus, der ehemals ungestümen Arve folgend, erlebt man eine hügelige, gewerblich und industriell belebte Landschaft mit dem markanteren Bergrücken Chaîne du Bargy auf der Südseite, worauf man bei La Roche auf die A410 gerät und Le Pays Rochoise flüchtig kennenlernt – den Fels am Flussdurchbruch, der Verbindung von Arvetal und Annecy.
 
Der müde Euro-Schlucker
Bei Balme/La Maladière (Cluses) mussten wir uns durch eine Mautstelle quälen, da die französischen Autobahnen von verschiedenen privaten Unternehmen betrieben werden und dementsprechend gebührenpflichtig sind. Wir wurden auf einem kleinen Bildschirm aufgefordert, 1,90 Euro in den Münzenschlucker einzuwerfen, was wir denn auch taten. Die Münzen wurden nicht angenommen. 2. Versuch. Wieder nichts. Ich schob meine Visa-Karte ein, die der Automat gleich wieder erbrach. Also drückte ich, vor der geschlossenen Barriere gefangen und hinter mir eine Kolonne aufbauend, auf einen Alarmknopf. Ein junger Mann eilte herbei, öffnete eine Seitentür des Kastens, nahm darin eine Manipulation vor, und die Karte wurde akzeptiert. Die Barriere öffnete sich.
 
Bei unserer Einfahrt gegen 11 Uhr machte Annecy einen verstopften Eindruck. Kilometerlang standen Auto an Auto schräg halb auf der Strasse, halb auf dem Trottoir mit den auffallend hohen Randsteinen. Savoyen hat sich überhaupt einen Sport daraus gemacht, so hohe Randsteine zu verwenden, dass die unteren Karosserieteile der Autos garantiert zerkratzt werden. Auf solche Experimente wollten wir uns bei aller Unterwerfung unter die Sitten eines Gastlands unter keinen Umständen einlassen. Deshalb steuerten wir das Zentrumsparkhaus am Quai J.  Philippe beim Hôtel du Ville (ehemaliges Rathaus, heute das Pfarrhaus) an und erwischten im 3. Untergeschoss gerade noch einen der letzten freien Plätze. Dieses im Gegenverkehr befahrbare Parkhaus ist grosszügig dimensioniert.
 
Annäherung an Annecy
Als wir uns mit dem Lift aufs Parterre hinauf hatten tragen lassen, befanden wir uns gleich am Canal du Vassé, der dort verläuft, wo früher die alte Stadtmauer war. Ein authentisches Holzpferdekarussell aus dem Jahr 1906 dreht nach wie vor seine Kreise. Wir steuerten die Kirche Saint-Maurice (eines von zahlreichen Gotteshäusern) an, weil solche Bauwerke immer das Zentrum markieren. Und so gerieten wir in die Welt der Kanäle und Brücken, zuerst einmal zum Kanal Saint-Dominique, der den Namen den Dominikanern verdankt, den früheren Eigentümern der Kirche. Fasziniert betrachteten wir den hinter der Kanalbrücke den im Wasser des Kanals Le Thiou stehenden Palais de l’Ile (Palais de l'Isle), der wie ein aufgemauertes Schiff aussieht. Dicke Gitterstäbe erinnern daran, dass es sich dabei einst um das Stadtgefängnis und Gerichtsgebäude handelte.
 
Die Altstadt, die an ein mittelalterliches, überdimensioniertes Puppenhaus erinnert, war von einem ausufernden Floh- und Antiquitätenmarkt erfüllt, der gute Einblicke in die Kulturgeschichte gab, und auf dem auch alte Bücher über Savoyen angeboten wurden, die in der Regel schwer erhältlich sind. Die Zirkulationsmöglichkeiten im Bereich der Häuser mit ihren Wassertoren bei den eingezwängten Kanälen, die noch viel von ihrer Ursprünglichkeit bewahrt haben, führten vielerorts zum Gedränge. Ein Hauch von Venedig. Es gab mehr zu sehen, als man aufzunehmen imstande war: Im Wasser spiegelten sich die farbenfrohen Häuser: Die älteste Steinbrücke, der Pont Morens, über den Thiou ist von 2 Treppentürmen flankiert. Mechanische Schleusen, welche den Kanal Saint-Dominique abriegeln können, leiteten das Wasser einst den Turbinen einer Tuchfabrik (1804‒1955) zu. Sie war im ehemaligen Kloster der Klarissinnen untergebracht.
 
Begegnung mit Tartiflette
Von Hungergefühlen getrieben, spazierten wir in die Altstadt, la vieille ville, zurück, wo Restaurants unter Sonnenschirmen ihre preiswerten Angebote offerieren, Savoyardisches Fondue, frittierte oder gebratene Fische und Tartiflette, ein Name, der mir zum erstenmal begegnete. Es handelt sich dabei um kein traditionelles Gericht, sondern es ist offenbar erst in den 1980er-Jahren von Reblochon-Vermarktern, genau genommen vom Syndicat interprofessionnel du reblochon, kreiert worden.
 
Eva und ich schlenderten den Aussenrestaurants entlang, wobei meine Frau beobachtete, wo die Pommes frites in den Tellern knochentrocken und wo sie hausgemacht, unregelmässig in der Grösse und frisch wirkten. Das Restaurant Le Pichet an der 13 rue Perrière schien alle diese Anforderungen zu erfüllen, und eine junge Frau, die dort tafelte und unsere Abklärungen beobachtete, sagte, hier sei wirklich alles sehr gut. Und so war es denn auch. Die frittierten Fischchen verbesserten meinen Kalziumhaushalt, die Pommes waren schmackhaft und frisch, und das Tartiflette zu einem Sayoyer Weisswein erwies sich als delikat: Ein Auflaufgericht aus savoyardischen Kartoffeln („Tartiflâ“), Reblochon-Käse und Zwiebeln, Crème fraîche und Weisswein, in einer Auflaufform überbacken. Die beiden Essen und ¼ Liter Wein kosteten total 42.70 Euro; ein Kellner bediente uns perfekt.
 
Der Reblochon-Käse aus nachgemolkener Milch ist das Resultat einer Steuerbetrugsmassnahme der Bauern. Sie mussten ihre Steuern nach der Menge der abgezapften Milch bezahlen und molken deshalb nicht fertig. Erst wenn der Steuerkontrolleur abgezogen war, leerten sie die Euter noch vollständig. Sie fanden heraus, dass der daraus erzeugte Käse besser schmeckte als jener aus der Normalmilch.
 
Das herrschaftliche Schloss
Wer Savoyen besucht, muss Annecy sehen, und wer Annecy besucht, muss das Schloss besichtigen. Dessen Geschichte, die bis zu den Pfahlbauern zurückreicht und auch die Römer einbezieht, erhielt einen wichtigen Akzent durch die Niederlassung des Grafen von Genf zu Beginn des 13. Jahrhundert. Die Grafschaft Genf wurde ins Herzogtum Savoyen eingegliedert – Genf war noch eine Apanage, das heisst, die Adligen wurden mit einer Abfindung ausser Betrieb gesetzt. Annecy gewann entsprechend an Bedeutung. Und 1860 wurde Savoyen Frankreich angeschlossen.
 
Die imposante Silhouette des Schlosses in erhöhter Position prägt die Landschaft, über die Stadt hinaus. Etwa 40 km südlich von Genf gelegen, wurde von diesem Schloss aus die Gegend des „Genevois“ (vom Salève bis zu den Bauges mit Einschluss von Annecy) dirigiert und beherrscht. Der Königinnenturm als ältester Teil des Komplexes stammt noch aus dem 13. Jahrhundert.
 
Das Bauwerk erzählt seine Geschichte gewissermassen selbst. Es zeigt die Etappen von der kleinen Burg bis hin zu einem noblen Hof, zu einem Sitz des Herzogtums, zu einer Kaserne. Die verschachtelte Anlage mit den riesigen Sälen dient jetzt vor allem als Kulturzentrum. Das uneinheitliche bauliche Konglomerat macht überraschenderweise dennoch einen einheitlichen Eindruck. Der schön gepflästerte Innenhof erlaubt einen Blick über die Dächer von Annecy.
 
Das Schloss verlor seine Bedeutung, als nach dem Ende des 2. Weltkriegs die letzten Soldaten abgezogen waren. Es wurde 1947 von einer Schar von Obdachlosen in Beschlag genommen. Die denkmalgeschützte Anlage wurde am 16.01.1953 zum symbolischen Preis von 10 Francs von der Stadt Annecy erworben und anschliessend einer verantwortungsbewussten Dauer-Renovation unterzogen und mit kulturellem Leben erfüllt.
 
In seinen „Bekenntnissen“, die zwischen 1765 und 1770 entstanden sind, hat Jean-Jacques Rousseau das intime und friedliche Leben in dieser ländlichen Kleinstadt beschrieben, die er bereits 1728 entdeckt hatte. Im Alter von 16 Jahren Genf verliess er Genf und fand Aufnahme bei der um 13 Jahre älteren Madame de Warens, die in Annecy eine kleine Pension unterhielt. Er besuchte ein Priesterseminar, fand sich darin aber nicht ganz zurecht, betätigte sich als Chronist und Musikschüler. Im Schloss-Museum findet bis zum 01.10.2012 die Ausstellung „Autres. Étre sauvage de Rousseau à nos jours“ statt, ein Hinweis auf das Anderssein, die Menschenscheu.
 
Im alten Wachsaal und anderen Räumen mit ihren schlichten Säulen wurden bei unserem Besuch die letzten Schreie aus dem modernen Kunstschaffen gezeigt, so etwa ein in einem Türrahmen geklemmter schwarzer Ball, ein aufgefächertes, grossmaschiges Gitter, eine Wanddekoration aus einem zerschnittenen Wellplastik und dergleichen Spielereien, die die Welt nicht braucht. Alles ist Kunst, jeder ein Künstler.
 
Das Bauwerk tröstete über den Kulturzerfall hinweg; es symbolisiert Macht und solide Handwerkskunst. Ein leichtes Augenbrennen bei mir und eine leichte Benommenheit bei Eva deuteten auf den Einsatz eines Konservierungsmittels hin, damit sich die Holzwürmer, Schimmelpilze und Konsorten an den alten Hölzern nicht gütlich tun; ich hatte den Eindruck, es handle sich um Formaldehyd. Und so wurden wir denn unsanft in die Neuzeit katapultiert.
 
Le Lac d’Annecy
Natürlich übte auch der saubere Annecysee eine starke Anziehungskraft auf uns aus, der 14,6 km lang und maximal 3,2 km breit ist und an dem sich ein riesiger Park mit uralten Bäumen befindet. Segel-, Ruder-, Tret- und Linienboote am Pier warteten auf ihren Einsatz. Im Wasser spiegelten sich auf der Ostseite der Mont-Veyrier, die Dents de Lafon, die Tournette und auf der Westseite der Waldbuckel namens Montagne du Semnoz. Die wunderschön eingebettete Lage in einer angenehm modulierten Landschaft hat dazu geführt, dass Annecy am Seeausfluss immer wieder mit einer Perle verglichen wird.
 
Das Akazien-Hotel
Da wir genug vom innerstädtischen Gedränge hatten, machten wir uns auf die Suche nach einer Unterkunft an einem ruhigeren Teil des Sees, holten das Auto aus der Garage und fuhren ans nordöstliche Ufer des Annecysees nach Veyrier-du-Lac, wo wir auf das mit grossen Buchstaben beschriftete Hotel „Les Acacias Bellevue – Logis de France“, 14 Route d’Annecy, aufmerksam wurden. Der Wirt, hinter einem Schalter sitzend und viel Papier um sich ausgebreitet, sicherte uns ein Doppelzimmer inkl. Frühstücke für total 106,90 Euro zu. Wir waren froh, das Unterkunftsproblem gelöst zu haben.
 
Das gegen den Mont Veyrier gelegene Zimmer war ruhig, befriedigte bescheidene Ansprüche. Hoch oben in einer Zimmerecke war ein kleines Fernsehgerät montiert, das ich nicht in Betrieb setzen konnte. In solchen Momenten zweifle ich jeweils an meinem technischen Talent. Ich begab mich zum Herrn des Hauses im Eingangsbereich, erklärte ihm den Zustand des TV-Kasten, und er verfügte in obrigkeitlichem Ton: Ça marche!“ Da ich mich unverdrossen gegenteiliger Ansicht zeigte und an dieser festhielt, überwand er sich, das Treppenhaus emporzusteigen und an Ort und Stelle persönlich zum Rechten zu sehen. Zuerst riss er den überflüssigen Teil eines silbergrauen Klebbands ab, mit dem eine Mehrfachsteckdose am Arm der Fernsehtragfläche befestigt war. Er begann zu hantieren, drückte die Knöpfe am Fernseher und spielte dann, etwas nervös geworden, auf der Fernbedienung herum, bis er zur Feststellung fand: Ça ne marche pas“. Wodurch wir endlich Einigkeit demonstrieren konnten. Bis zu unserer Abreise am kommenden Morgen wurden keine Anstalten getroffen, das Gerät zum Marschieren zu bringen, und so entgingen mir die Fernsehnachrichten.
 
An den Gestaden des Sees
Aus der Gewissheit heraus, dass der Lac d’Annecy attraktiver noch als das Zimmer und dessen Einrichtung sein würde, starteten wir zu einer abendlichen Rundreise im Uhrzeigersinn (Gesamtumfang: 32 km): Menthon-Saint-Bernard und Talloires („Nizza Savoyens“). Hier verwirrte mich der Wegweiser Col de la Forclaz im ersten Moment, denn über einen Pass dieses Namens waren wir ja von Martigny im Wallis nach Chamonix-Mont-Blanc gefahren (Savoyen-Bericht 1). Doch in diesem speziellen Fall war ein bescheidenes Pässchen gemeint, das südlich von Talloires auf 1150 m ansteigt, sich nach Montmin verzweigt beziehungsweise gleich wieder vor Faverges in die von Gletschern angelegte, fast 2 km breite Talfurche absteigt. Die Passhöhe soll immerhin einen schönen Blick auf den Annecysee gewährleisten.
 
So weit fuhren wir bei unserer teilweisen Seerundfahrt nicht. Bei Doussard machten wir den Rechtsbogen und fuhren auf der Westseite bis Duingt, atmeten die frische, feuchte Seeluft. Der See ist von einem Gebiet umgeben, das seit 1957 teilweise unter Naturschutzgebiet steht, in das er selbstredend einbezogen ist. Schnellboote und das Wasserskifahren bleiben davon offenbar unbehelligt. Die Wasserfläche hat eine längliche Form, ist im Süden zweifach abgeknickt und verjüngt. Der zusammenhängende See, auf 447 Höhenmetern gelegen, wird deshalb im Norden als „Le grand Lac“ und im Süden als „Le petit Lac“ benannt. Er wird von Bächen und einer Unterseequelle mit Wasser versorgt und erreicht im Sommer oft eine Temperatur von 24 °C (http://www.lac-annecy.com/).
 
Am See stehen 2 Schlösser: in Menthon-Saint-Bernard und in Duingt. In diesem Duingt am Nordfuss des Massivs der Bauges, dessen Name auf das keltische Wort dunum = Festung zurückgeführt werden könnte, gibt es einen öffentlichen Park am See, wo wir die Abendruhe nutzten. Neben und hinter der Kirche stehen typische, kleine savoyardische Häuser mit Aussentreppen, die auch Reben zum Aufstieg verhelfen. Das Dörfchen belegt eine Art Halbinsel am Fusse eines Felsvorsprungs des Taillefer, und hier hat der See seine engste Stelle.
 
Wir schauten von einer Bank aus etwa 10 Blässhühnern mit der weissen Blesse über dem Schnabel zu, welche ihre Tauchgänge absolvierten, die sie mit einem Sprung einleiten. Sie demonstrierten wilde Verfolgungsjagden und zogen sich allmählich in den Schutz der nahen Schilfzone zurück.
 
Unser Appetit reichte für ein vollständiges Abendessen nicht aus; doch im Auto waren noch Käse, schnell trocknendes Pariserbrot, anderes Trockenfutter, Wein und Mineralwasser aufzutreiben, was für ein Picknick mehr als genügend war. Ça marche“, gab ich zum Besten, bevor wir ins Akazienhotel zurückkehrten, wo der TV-Kasten, Olympia in London hin oder her, in seiner Agonie verharrte.
 
In der Nacht brach ein kräftiges Gewitter herein, und ich befürchtete, unser auf einem abschüssigen Hang neben dem Hotel parkierte Auto werde zum See gespült. Doch: ça ne marche non plus. Zum Glück.
 
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