Textatelier
BLOG vom: 20.06.2012

Handwerkermarkt in Aarau: Das wiederbelebte Vehfreudige

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Himmelschreiende Zustände spielten sich um 1850 im Emmentaler Dorf ab, das Jeremias Gotthelf „Vehfreude“ nannte. Die Freude war in der armseligen, gottverlassenen Gegend an einem kleinen Ort. Die Bauern lieferten verdünnte und manchmal verdorbene Milch ab, aus welcher der Dorfkäser mit dem besten Willen keinen brauchbaren Emmentalerkäse zustande brachte. Aber dieser Stoff aus dem umfangreichen Gotthelf-Repertoire ist ein gefundenes Fressen für Filme- und Theatermacher. Der Film „Käserei in der Vehfreude“ von Franz Schnyder, 1958 entstanden, ist ein Klassiker des helvetischen Heimatgefühls, und zwischen dem 06. und 30.06.2012 haben das Theater Marie, Aarau (www.theatermarie.ch), und das TaB-Theater (TaB = Theater am Bahnhof), Reinach AG (www.tab.ch), in der Alten Reithalle in Aarau, ebenfalls in Bahnhofnähe, die Gotthelfsche Welt wiederbelebt.
 
Reithalle als Marktplatz
1 ½ Stunden vor jeder Theater-Vorstellung wurde und wird noch bis Ende Juni 2012 ein Markt mit guten, währschaften Landwirtschaftsprodukten wie Gemüse, Spezialitätenessigen, Käse, Antiquitäten, Büchern usf. durchgeführt, dessen Hauptattraktionen neben dem Käsen Demonstrationen von urtümlichen Handwerkstechniken sind.
 
Bei meinem Rundgang vom 17.06.2012 erweckte der Hobby-Korber Emil Schmid aus Buchs AG, der 50 Jahre lang im Büro gesessen hatte, wie er sagte, nostalgische Gefühle, als er dunkle und helle Weidenruten so ineinander verwickelte, dass ein grosser, bauchiger Korb in die Höhe wuchs. Die dunkleren Weiden hatte er im Aarauer Roggenhausentäli geschnitten, wochenlang eingeweicht und biegsam gemacht; die weissen für gürtelähnliche Verzierungen mussten käuflich beschafft werden.
 
Gleich nebenan zeigten Anna Hegi und Yvonne Amsler vom Freiämter Strohmuseum CH-5612 Wohlen, was man mit dem silberglänzenden Naturprodukt Stroh weit über die wunderschönen Strohhüte hinaus alles herstellen kann. Das weitgehende Verschwinden der Strohhutindustrie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war laut Museumskuratorin Hegi zum Teil modebedingt – immer weniger Leute trugen einen Hut –, und zudem wurden die in geduldiger Handarbeit hergestellten Strohhüte als zu teuer empfunden. Billigere Materialien, die für die maschinelle Verarbeitung geeignet waren, kamen auf. 1991 schloss das älteste Grossunternehmen der Strohindustrie, die Firma Jacob Isler & Co. AG, nach 204 Jahren seine Pforten.
 
Damit ging die Epoche des anspruchsvollen und breit gefächerten Kunstschaffens zu Ende. Denn nicht allein Hüte entstanden im Freiamt, sondern daneben wurde, wohl seit dem 16. Jahrhundert, das im Übrigen als wertlos empfundene Weizenstroh – gelegentlich kamen auch Roggenhalme zum Zuge – mit handwerklichem und künstlerischem Geschick verarbeitet.  Manchmal wurden Pferdehaare, Seide, Hanf und Baumwolle einbezogen und zu einer feingliedrigen Ornamentik, zu Spitzen, Garnituren und Gewebe für dekorative Zwecke verarbeitet. Modehäuser in aller Welt gehörten zu den Kunden der Freiämter Kunstschaffenden, die ihre schöpferische Fantasie mit einem ausgesprochenen Sinn für Schönheit zu vereinen wussten.
 
Mit Halmspaltern, scharfen Instrumenten aus Horn, wurden die Halme in eine Art dünne Streifen („Schnürli“) zerlegt, Ausgangsmaterial für filigrane Schmuckelemente.
 
1806 bis 1835 wurden in vielen Freiämter Orten Flechtschulen gegründet, um den Nachwuchs zu sichern. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren zwischen 50 000 und 60 000 Personen im Freiamt irgendwie mit Stroh beschäftigt, und die Freiämter Produkte hatten einen weltweiten, exzellenten Ruf.
 
Neben dem Stroh-Stand in der Alten Reithalle, an dem Heidi Schmidheini aus Villigen AG und Claudia Künzi-Schnyder aus Maschwanden ZH (Schweizer Verein „stroh-in-form“) schöne Strohgeflechte zeigten, erinnerte Heidi Stalder an Klöppeln. Sie sei eine „Fadenfrau“, sagte sie mir, liebe also alle Arbeiten mit Fäden, und dass sie ein ausgesprochenes Talent dafür hat, war offensichtlich. Durch Kreuzen und Drehen von Fäden, die auf Klöppel (formlich wie der innere Teil kleiner Glocken) gewickelt sind, entstanden Bordüren. Aus einem vermeintlichen Faden-Durcheinander wuchsen komplizierte, regelmässige, entzückende Muster heraus. Es sei gar nicht schwierig, sagte sie Frau Stalder noch – ich habe das ganz anders empfunden, würde mich im Fadengewirr komplett verhaspeln.
 
Raucherfreuden im Nostalgieduft
Eine erhebliche Anziehungskraft übte auf mich der Stand des „Tabak&Zigarren-Museums aargauSüd“ (www.tabakmuseum.ch) aus, das an der Gütschstrasse 6 in CH-5737 Menziken AG domiziliert ist und einige Ausstellungsstücke zeigte. Die Zigarren-Geschichte und -Produktion erinnerten an einen wichtigen Wynen- und Seetaler Erwerbszweig, den es zum guten Glück trotz der undifferenzierten, hirnverbrannten Antiraucher-Kampagnen heute noch immer gibt. 1925 durfte noch ein Werbespruch den Absatz so fördern: „Sei ein Mann – und rauche Stumpen und Zigarren.“
 
Zufällig begegnete ich am Tabakstand der Frau des Stumpenfabrikanten Heinrich Villiger, Martina Villiger, und Susi Merz, einst Gemeindeammann in Menziken und treibende Kraft des Tabak- und Zigarren-Museums. Wir unterhielten uns z. B. über die begehrten, hochwertigen kubanischen Tabake, von denen in Exportprodukten in die USA keine Spur vorhanden sein dürfen. Deckblätter können laut Frau Villiger nicht importiert werden, weil die Kubaner alle selber brauchen.
 
Im Wynental nahm die qualitätsbewusste Tabakindustrie 1843 ihren Anfang, als Samuel Weber im „Emmet“ seine erste Zigarrenfabrik in Betrieb nahm. Doch der Tabakgenuss ist bedeutend älter, und die Tabakpflanze wurde als Allzweckheilmittel propagiert. Der französische Arzt Jean Liébault schrieb 1570, wenn man im Mörser zerstossene Blätter auflege, heile die Tabakpflanzen alle Wunden, krebsartigen Geschwüre und auch Krätze (eine von Milben ausgelöste parasitäre Hauterkrankung). Das Nikotin als wirksames Alkaloid hat inzwischen eine traurige Karriere hingelegt – es spielt bestenfalls noch in der Homöopathie und ausgerechnet in der Rauchentwöhnungstherapie noch eine bescheidene Rolle.
 
Das Zigarrenmachen gehört zu den traditionellen Handwerkskünsten, und zum Glück gibt es noch immer viele genussfähige Menschen, die sich nicht von amtlichen Warnungen und Mitläufern beeindrucken lassen und lustvoll weiterrauchen.
 
Bottenwürste, mit Zwetschgen gespickt
Am Slow-Food-Stand begegnete ich Paolo Bleisch aus Biberstein, der das Angebot von verschiedenen naturbezogenen Produkten, nach regionalen, überlieferten Rezepten hergestellt (Presidi), mit seinem Fachwissen ergänzte. Ich sicherte mir ein Paar Bottenwürste mit Hochstamm-Dörrzwetschgen. Das sind fettarme Rind- und Schweinefleischwürste, die ohne Konservierungs- und Umrötemittel auskommen. Und ich wage es, auch die Wurstfabrikation zu den erhaltenswerten handwerklichen Künsten zu zählen – wie auch den vehfreudigen Käse. Es sind, wenn sie aus einer umgrenzten Region kommen, identitätsstiftende Genussmittel, Restbestände aus der Volkskultur.
 
Gotthelf sagte in seiner urwüchsigen Sprache zu unserer schweizerischen Milch- und Käseproduktion: „Bekanntlich ist beim Käsen die Hauptsache die Milch. Ohne Milch ist ausgekäset, und um Milch zu bekommen, sind Kühe die Hauptsache. Und an Kühen ist gottlob selten Mangel hier.“
 
Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass auch nicht ausgezigarret, ausgeflochten, ausgeklöppelt wird und dass der Industrieschnellfrass entschleunigt, sozusagen verslowt, wird.
 
 
Quellen
Merz, Susi: „Tabago. Tabak- und Zigarrenmuseum aargauSüd“, Tabak- und Zigarrenmuseum, Menziken 2002 (limitierte Auflage: 2100 Exemplare).
 
Stiftung „Freiämter Strohmuseum Wohlen“ (Herausg.): „Freiämter Strohmuseum Wohlen“ 2. Auflage 1995.
 
 
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