Textatelier
BLOG vom: 11.06.2012

Ein Abend mit Hofgesang und überraschenden Beigaben

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Nun sind die Hofgesänge wieder abgeschlossen. Rechtzeitig machte uns die Quartierzeitung noch darauf aufmerksam, dass sie am Ausklingen seien. In diesem Jahr 2012 wurde vom 7. Mai bis 9. Juni in Zürichs Höfen an 108 Orten gesungen. Im Blog vom 16. Mai 2006 berichtete ich schon über dieses Projekt. Noch immer gilt der Grundgedanke „Die freundlichen Höfe werden gefeiert – die trostlosen wachgeküsst.“
 
Als wir an jenem Abend an der Röntgenstrasse 55 mit den Velos eintrafen, begann es gerade zu regnen und innert kurzer Zeit zu giessen, zu schütten. Ein beängstigendes Gewitter erreichte die Stadt. Dadurch musste der Singkreis der Engadiner Kantorei, der im schönen Hof dieser grossen Siedlung hätte auftreten wollen, ins Kindergartenlokal ausweichen.
 
Primo und ich waren zu früh eingetroffen. Die Quartierzeitung hatte den Zeitpunkt nicht richtig angegeben. Wir überbrückten die Wartezeit mit einem Besuch in der nahe gelegenen SENIOR DESIGN Factory. Eine gute Gelegenheit, das neu eingerichtete Café-Restaurant kennenzulernen. Hier arbeiten junge und alte Menschen mit Begeisterung zusammen. Es werden täglich alte Rezepte mit saisonalem Angebot aus der Region frisch gekocht. Mir haben die Brioches aus ihrer Küche gemundet. Für ein Menu reichte unsere Zwischenzeit nicht.
 
Unterdessen hatte sich der Singkreis im Kindergarten der grossen Siedlung einrichten können, und als wir dort wieder eintrafen, sangen sie schon ein erstes Lied. Platz für Zuhörende gab es in diesem Raum nicht viel. Wir Gäste standen, wo man Platz fand. Im Eingangsbereich, auf der Treppe, einfach dort, wo es nicht regnete. Wie ich später von einem Sänger erfahren habe, entstammten alle Lieder der Romantik. Kein Wunder liess ich mich von ihren Klängen und den naturseligen Texten aus meinem Alltag wegtragen.
 
Nach 3 Liedern wurde eine junge Frau, sommerlich gekleidet und darum etwas fröstelnd, ins Freie geschickt, um Ausschau zu halten, ob die andere Hälfte des Programms draussen dargeboten werden könne. Sie erinnerte an Noah und die ausgesandte Taube, die ausschauen musste, ob das Land trocken sei.
 
Trocken nicht, berichtete sie, aber es regne nicht mehr. Die 50 Sängerinnen und Sänger freuten sich, dass sie auch noch im Hof auftreten konnten. Der Singkreis stellte sich im Halbkreis auf. Und wir Zuhörende ergänzten diesen locker zu einem Ganzen.
 
Jetzt sah ich, dass auch Fenster geöffnet waren und einige wenige Anwohner von ihrem Zuhause aus zuhörten. Ohne Regen wäre der Abend gewiss anders verlaufen. Alle flüchteten dann rasch heim. Und Fenster wurden auch wieder geschlossen. Und doch war es schön gewesen, hier zu verweilen.
 
Wieder bei unseren Fahrrädern, zog ich den Regenschutz an. Da kam eine Frau auf mich zu und wollte wissen, ob mein Vorname Rita sei, vormals so und so. Ja! Sie sei eine Mitschülerin von mir, habe mich sofort erkannt. Antoinette ihr Name. Und ohne zu begreifen, wie das möglich war, befanden wir uns augenblicklich in der Sekundarschule, wussten Namen und Orte, die wir lange hätten suchen müssen, wenn jemand danach gefragt hätte. Primo stand still daneben und beobachtete uns. Als Antoinette erzählte, ich sei die einzige gewesen, die sich einmal getraut habe, nach einem bestimmten Gedicht zu fragen, lachte er zustimmend. Es muss sich um ein lyrisches Gedicht von einem wogenden Ährenfeld gehandelt haben, das ich gerne vorgetragen hätte. Ja, das passt zu mir. Und doch staunte ich. In jener 3. Klasse fühlte ich mich gerade in den Deutschstunden nicht wohl. Die Ansprüche waren elitär, die Lehrerin ehrgeizig. Sie arbeitete am liebsten mit Schülerinnen, die sie in höhere literarische Gefilde führen konnte.
 
Ich gehörte nicht zu diesen Auserwählten. Dass mir nun jemand sagt, ich sei damals mutig gewesen, erstaunt mich. Und beweist wieder einmal, dass das, was in der eigenen Innenwelt abläuft, nicht unbedingt unverändert von aussen her wahrgenommen wird. Und ich wundere mich, dass der Mut für Antoinette an diesem Abend sofort wieder im Mittelpunkt stand, auch wenn seither ein halbes Jahrhundert vergangen ist.
 
Ich konnte mich auch an eine Episode erinnern, die mir sofort präsent war. In der 1. Französisch-Lektion wollte die Lehrerin wissen, ob jemand schon Französisch spreche oder vielleicht einen Ausspruch in dieser Sprache kenne. Antoinette war die einzige. Sie sagte, von ihrer Mutter höre sie manchmal den Satz „Je ne peux pas répondre à cause de la petite“ (Ich kann nicht sprechen wegen der Kleinen). Damals sprach sie diesen perfekt aus, ohne ihn zu verstehen.
 
Es regnete immer noch, als wir heimfuhren. Aber es störte uns nicht. Wir freuten uns über diesen Abend und die lockeren Kontakte, die sich ergeben hatten. Eine Frau schloss sich uns ganz unkompliziert an, als wir Richtung SENIOR DESIGN FACTORY steuerten. Sie hatte mitbekommen, wie uns ein Anwohner riet, dieses Gasthaus zu besuchen. „Es wird Ihnen gefallen“, sagte er noch dazu. Primo berichtete dann dort von früher, denn in dieser Umgebung ist er aufgewachsen. Und die Frau erzählte, wo sie daheim sei. In Zürich-Altstetten, ganz nahe bei uns.
 
Für uns vollzog sich an diesem Abend manches, das zum Thema Soziokultur passt. Und diese liegt ja dem Projekt Hofgesang zugrunde.
 
Hinweis auf das frühere Blog über den Hofgesang in Zürich 
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