Textatelier
BLOG vom: 19.05.2012

Musikrätsel: Die Melodie im Kopf oder der Wurm im Ohr?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein  D
 
Ohrwürmer sind Insekten, die ihren Namen davon bekommen haben, dass von der Antike bis in die frühe Neuzeit hinein die Tiere pulverisiert als Medizin gegen Ohrkrankheiten und Taubheit verabreicht wurden. Sie sind also nicht schädlich für Menschen und wandern auch nicht ins menschliche Ohr.
 
Der Begriff Ohrwurm steht auch für Melodien, die sich „im Ohr“ eines Menschen festsetzen. Eine Melodie „kriecht“ also ins Ohr oder in die Ohren des Menschen und setzt sich dort fest. Meines Erachtens ist der Begriff falsch. Die Melodie ist nicht im Ohr, sie ist im Kopf oder im Gehirn. Nicht das Ohr hält sie fest, sondern bestimmte Bereiche des Gehirns lassen die Melodie immer wieder ins Bewusstsein kommen.
 
Ich wache oft morgens auf und habe eine Melodie „im Kopf“. Meistens weiss ich, welche es ist und wo sie herkommt. Beispielsweise habe ich seit einigen Tagen die Anfangsmelodie des Adagietto aus der 5. Symphonie von Gustav Mahler im Kopf, aus dem Konzert, das ich kürzlich live angehört habe. Die Melodie verfolgt mich seit einigen Tagen. Um sie wieder los zu werden, muss ich mir das Musikstück im Original von der CD anhören, wodurch es dann „abgehakt“ wird und meistens, nicht immer, verschwindet, oder ich höre etwas ganz anderes, das dann diese Melodie ersetzt; momentan ist es das Gitarrenkonzert „de Aranjuez“ von Joaquin Rodrigo. Beide Melodien wetteifern in meinem Kopf, und ich bin mir nicht sicher, welche gewinnt, also die Rolle des Ohr- bzw. Kopfwurms übernimmt.
 
Als Freund und Geniesser klassischer Musik sind es natürlich meistens solche Musikstücke aus Konzerten, die ich gern höre und liebe.
 
Schwierig wird es, wenn ich morgens mit einer Melodie im Kopf aufwache, die ich seit Monaten nicht mehr gehört habe, und die ich nicht zuordnen kann. Ich kenne sie, habe sie schon des Öfteren gehört, weiss aber nicht mehr, welcher Komponist sie geschrieben hat und welches Konzert diese Melodie enthält. So laufe ich dann manchmal tagelang mit einem Musikrätsel im Kopf herum.
 
Oliver Sacks, der Bücher geschrieben hat wie Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (1985) oder Der einarmige Pianist, Sachbuch, Über Musik und das Gehirn (2008):
 
„Man kann heute buchstäblich sehen, was beim Hören passiert. Musik erweist sich sogar als die verknüpfende Kunst im wahrsten Sinne: Das dickste Nervenbündel, das die Hirnhälften verbindet, das Corpus callosum, ist bei Profimusikern so ausgeprägt, dass ein Neurologe sie allein daran von anderen Menschen unterscheiden könnte. Das Hirn formt sich den Anforderungen entsprechend.“ Es ist das Kleinhirn, ein entwicklungstechnisch uralter Teil des Gehirns, daran beteiligt, und die rechte Gehirnhälfte kann bei Schädigung der linken überproportional Musik speichern. Wenn Sie nach Sacks Ihr Gedächtnis verlieren, bleibt das musikalische Gedächtnis immer noch erhalten.
 
„Im so genannten auditorischen Assoziationskortex entwickelt sich eine starke Aktivität. Dieser Teil der Gehirnrinde ist für die Verarbeitung von Gehörtem und die Verknüpfung von akustischen Reizen zuständig. Bei Unterbrechungen in Instrumentalstücken war zusätzlich auch der so genannte primäre auditorische Cortex aktiv. Das Gehirn versucht dann, die Melodie zu vervollständigen“ (Neuropsychologe David Kraemer vom Dartmouth College).
 
Wie löse ich also das Musikrätsel in meinem Kopf? Entweder ich gehe meine CD-Musiksammlung durch oder ich versuche, es durch andere Melodien zu verdrängen und zu ersetzen. Wenn ich die Melodie erkannt habe, höre ich mir das gesamte Stück an.
 
Wenn ich die Titel der CDs lese, kommen mir die Grundmelodien sofort in den Kopf. So kann ich mich meistens schnell entscheiden, welche ich weiterhören möchte und welche mir bei dem gegenwärtigen Gemütszustand gerade nicht passt. Denn das muss zusammenpassen, das gerade vorherrschende Gefühl oder das, was ich mir in diesem Moment wünsche und die Musik. Will ich „schwelgen“, höre ich gern Mozart, bin ich nachdenklich, Mahler oder Schostakowitsch. Liege ich irgendwie dazwischen, höre ich Schubert. Natürlich kann man das nicht so verallgemeinern, alle Komponisten haben Musikstücke geschrieben, die auf unterschiedliche Gemütslagen ansprechen. Auf längeren Autofahrten höre ich gern Minimal Music von Philip Glass. Dabei kann es aber auch passieren, dass ich mir wieder einen Ohrwurm einfange.
 
Leider habe ich nie ein Musikinstrument spielen gelernt. Ich bin also ein „passiver“ Musikliebhaber, vor allem von klassischer Musik. Ich kann auch die Musikschrift, also die Noten, nur ansatzweise lesen. So wie mir nach Lesen der Titel die Melodie einfällt, so „hören“ Musiker beim Lesen einer Partitur die Musik. Jetzt verstehe ich auch, wie ein Komponist wie Ludwig von Beethoven Musik schreiben konnte, obwohl er bereits fast oder ganz ertaubt war. Die Partitur wurde „in seinem Kopf-Orchester gespielt“. Er musste also nicht nur „einen Ohrwurm“, sondern „ein ganzes Nest davon“ in seinem Kopf gehabt haben.
 
Hinweise
SPIEGEL ONLINE, 10.03.2005 „Ohrwürmer verirren sich im Gehirn“;
ZEIT ONLINE, 11.06.2007, „Ohrwurm, wenn einmal der Wurm drin ist“
 
Hinweis auf ein anderes Ohrwurm-Blog
01.04.2008: Heinz Erven: Auf Ohrwürmer und Vögel statt Chemie gesetzt
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
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Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
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