Textatelier
BLOG vom: 27.04.2012

Disclaimers: Hilfloser Versuch, Juristenfutter zu vermeiden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Juristen sind ehrenwerte Leute. Die allermeisten von ihnen üben ihren anspruchsvollen Beruf mit grossem Verantwortungsbewusstsein aus, setzen ihre kostbare Unterschrift unter wichtige Dokumente, die nur sie gesetzeskonform abzufassen vermögen. Wenn sie aber in Heerscharen auftreten, können sie zur Landplage bzw. zum Weltplage werden – in der Ökologie kennt man Schädlingsplagen als Folge gestörter Gleichgewichte. So gab es am 01.01.2011 in der Schweiz 1 Anwalt auf 1032 Einwohner; in den USA waren es fast 4 Mal so viele: 1 auf 270 Einwohner. Das friedfertige Vietnam kommt mit 1 Anwalt auf 24 824 Einwohner aus, wenn man den Statistiken glauben darf.
 
Meines Erachtens dürften die Schweizer Zustände (1 Promille Anwälte) für ein Land mit komplexen gesetzlichen Regulierungen eine vernünftige Grösse sein. In den USA müssen die Fürsprecher-Heerscharen, vom Hunger nach Gesetzesverstössen getrieben, verzweifelt auf Juristenfutter-Suche gehen, was unter anderem am Ende dazu führt, dass für den Betrieb der Gefängnisse dem Vernehmen nach mehr Dollars als für die Schulbildung aufzuwenden sind. Vom US-Staat werden die Juristen eingesetzt, um überall auf der Welt nach einer Möglichkeit zur Verhängung von Millionenbussen zu suchen, was vor allem die wohlhabenden Länder schmerzlich zu spüren bekommen. Die Geschichte der Ausplünderung von rohstoffreichen Ländern zur Zeit der ersten Phase des Kolonialismus wiederholt sich in leicht modifizierter Ausgabe.
 
Unter solchen Voraussetzungen muss man vorsichtig sein, was man von sich gibt und bald einmal jeden Satz mit einem Disclaimer begleiten: Wenn man zum Beispiel öffentlich verlauten lässt, Bienenhonig sei gesund, muss irgendwo der Vermerk stehen, man übernehme für diese Feststellung keine Verantwortung. Das ist ein sogenannter Haftungsausschluss, der selbstverständlich für alles gilt, was auf der Webseite Textalelier.com verbreitet wird – trotz all unseres ehrlichen Bemühens, Fehlleistungen zu vermeiden oder, sobald sie erkannt sind, auszumerzen. Unser Korrekturaufwand in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht ist deshalb gross, was die Gefahr von Fehlern gleichwohl nie vollkommen ausschliessen kann.
 
Die Warnungen vor all den Todesgefahren, von denen wir umgeben sind, weil allein schon das Leben als solches wirklich lebensgefährlich ist, treiben seltsame Blüten. Bevor ich eine Zigarrenpackung öffne, um zur Entspannung und zum gehobenen Vergnügen ein edles Tabakprodukt zu geniessen, muss ich die Botschaft „Rauchen ist tödlich. Fumer tue. Il fumo uccide“ lesen. Und wahrscheinlich müssen die Neugeborenen im Gebärsaal demnächst lesen: „Das Leben ist lebensgefährlich.“
 
Wenn jeweils in der Turnviertelstunde am bayerischen Fernsehsender B3, dem meine Zuneigung gehört, ein paar ältere Leute die Schultern kreisen lassen und einen Fuss auf einen Stuhl hieven oder den Kopf von einer Seite auf die andere rollen lassen müssen, läuft unten am Bild ein Textband vorbei, auf dem sinngemäss zu lesen steht, man solle doch bitte zuerst mit dem Arzt darüber sprechen, ob man das aushalte. Die Vorturner und Fernsehmacher müssen sich absichern, denn das Bewegen auf der Gummimatte könnte ja einem mitmachenden Zuschauer den Bogen geben und zu horrenden Schadenersatzforderungen führen.
 
Falls ich publizistisch von mir gebe, Bienenhonig sei gesund, muss ich das gleich zurücknehmen und mich in Deckung bringen, weil es Honigallergiker und Zuckerkranke gibt, für die dieser Satz nicht zutrifft. Das sind Disclaimer-Abwandlungen, ein Beitrag zur Entmündigung und zur Infantilisierung der Gesellschaft, falls diesbezüglich noch eine Steigerung möglich sein sollte.
 
Man dürfte doch von jedem Menschen, Leser und Konsumenten eingeschlossen, erwarten können, dass er imstande ist, eigenverantwortlich zu handeln, das heisst die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu übernehmen. Ich bin doch nicht so blöd, alles nachzuvollziehen, was mir die Medien und, in diese eingebettet, die Werbung vorsetzen. Ich renne keinen Parteien, Religionen, Gurus und Beratern hinterher, um die Verantwortung zu delegieren und gedankenlos dahinvegetieren zu können. Und um mich ausnehmen zu lassen.
 
Mit anderen Worten: Ich brauche keine Disclaimers, sondern versuche, das Wissen zu mehren, Zusammenhänge und faule Tricks selber zu erkennen. Falls ich ein tödliches Risiko (wie den Genuss einer Zigarre pro Woche) eingehe, dann trage ich dafür die Verantwortung selber. Was ich mir einbrocke, fresse ich selber aus.
 
Das sagt nichts gegen die Haftpflicht, dieses zivilrechtliche Einstehenmüssen für eine widerrechtlich zugefügte, ausservertragliche Schädigung oder immaterielle Unbill aus. Wer ein Auto oder einen Eisenbahnwagen fabriziert, soll alles Menschenmögliche für die Sicherheit der Benützer tun, wobei auch hier nie eine 100-prozentige Sicherheit erreicht werden kann. Und dafür gibt es dann die Haftpflichtversicherungen, die hilfsbereit sind, wenn einem aus Versehen ein Fehler unterläuft oder man zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall einen Dritten schädigt. Eingeschlossen ist das Wort Haft als relativ leichte Form einer Freiheitsstrafe – eine Mahnung.
 
Genau genommen müsste alles mit Disclaimers versehen werden, obschon diese nur eine beschränkte bis überhaupt keine rechtliche Wirkung entfalten. Das Fernsehen beispielsweise müsste eindringlich vor dem damit verbundenen Sucht- und Verblödungspotenzial aufmerksam machen. Und immer wenn jemand in meinem Beisein die Lektüre des Inhalts der Webseite Textatelier.com empfiehlt, gebe ich meine dringende Warnung durch: Wer einmal mit dem Lesen anfängt, wird dermassen gepackt, dass er fast nicht mehr aufhören kann (Suchtgefahr). Obschon dies natürlich durchaus zutrifft, wird das von Leuten, die uns bisher noch nicht entdeckt haben, als Gag empfunden, und es breitet sich eine ansteckende, wohltuende Fröhlichkeit aus.
 
Man kann von allem süchtig werden: Zucker, Fettgebackenem, Kaffee, Tee, alkoholischen Getränken, Drogen, Medikamenten, Joggen und jeder Art von sportlicher Tätigkeit. Süchte lauern allerorten – bis hin zur Abfallsammelsucht der Messies, die nicht zwischen Nützlichen und Unnützem, Wertlosem unterscheiden können, und weiter bis zur Spiel- und Magersucht. Immer sind Extreme im Spiel, und es ist oft schwierig, abzugrenzen, wo der Genuss aufhört und die Sucht beginnt. Aber das Auffinden des individuell zuträglichen Masses können einem keine Disclaimers abnehmen.
 
Vieles hat mit der Unvollkommenheit von uns Menschen und der verbreiteten Unfähigkeit zu tun, uns über Veranlagungen und gesellschaftlich bedingte Fehlentwicklungen hinwegzusetzen und endlich Vernunft anzunehmen.
 
Das englische Verb „to disclaim“ bedeutet so viel wie „abstreiten“, „bestreiten“ oder „in Abrede stellen“ oder auch „verzichten“. Ein schwer fassbarer, schwammiger Begriff: Wenn wir auf das kritische Überdenken verzichten, geraten wir hinterher in Versuchung, die Folgen unseres Tuns bestreiten zu müssen, in der Hoffnung, es werde nicht zum Juristenfutter.
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Überlebenstip: Am Besten ist es, wenn man gleich zu lesen, zu essen, zu trinken und sich zu vergnügen aufhört. Doch selbst für diesen weisen Rat lehne ich jede Verantwortung kategorisch ab, weil die Gefahr des Verhungerns und des Verdurstens besteht. Und das ist alles andere als ein Vergnügen.
 
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