Textatelier
BLOG vom: 17.11.2011

Kapriolen mit Buchstaben – bis hin zu ganzen Wörtern, Sätzen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„um keinen deut deutlicher ist
was deutsch deutet, als was deutsch täuscht
jedoch:
um einen deut deutlicher ist,
dass deutsch deutet, was deutsch täuscht.“
André Thomkins, „Schwebezeile“
*
Wahrscheinlich sind wir im Machtbereich der Bibel falsch instruiert: Am Anfang war nicht das Wort. Am Anfang war der Buchstabe. Mit Buchstaben kann man zeichnen. Buchstaben kann man wenden und drehen, und man kann sogar, wie ich mir sagen liess, ganze Wörter daraus zusammenfügen, die man leise, normal oder laut aussprechen oder niederschreiben kann. Gewisse Leute behaupten, man könne Wörter zu vollständigen Sätzen zusammensetzen. Aber so weit muss man nicht unbedingt gehen. Man kann alles auch übertreiben.
 
Am Sonntagnachmittag, 13.11.2011, suchte ich das Forum Schlossplatz Aarau auf. Es befindet sich gleich neben den hohen Bauprofilen des Aarauer „Schlösslis“ domiziliert, das offenbar vor einem Wachstumsschub steht; das Stadtmuseum soll saniert und erweitert werden. Es ist bereits in der jetzigen Baubewilligungsphase geschlossen. Doch das benachbarte Forum Schlossplatz ist umso aktiver. Doch möchte ich das nicht zu laut sagen. Als ich um 13.50 Uhr die Eingangstür passiert hatte, bedeutete mir Manuela Casgrande, den Zeigefinger aufrecht vor den Lippen, bei freundlichem Lächeln nämlich, bitte ganz leise zu sein. Denn drinnen im Saal 1, der nur durch eine Holztür vom Eingangsbereich getrennt ist, hatte bereits die Lesung „Regenbogen – ein Silbengedicht“ von Matthias Dieterle begonnen. In diesem Haus sei es furchtbar ringhörig, sagte die Empfangsdame; selbst ein Flüstern dringe nach innen. Wörter können als, wie ich messerscharf folgerte, eine wahre Belästigung sein.
 
Ich bezahlte die 12 CHF Eintritt ohne grosses Klimpern und durfte um 14 Uhr zusammen mit einigen weiteren, zu abgedämpftem Flüstern verurteilten Neuankömmlingen in den Saal 1 eintreten, in den in einer kurzen Pause einige zusätzliche klapprige Klappstühle getragen wurden. Ein frei schaffender Journalist aus Zürich war auch dabei. Vis-à-vis des Publikums setzte sich Sylvia Alexandra Schimag als Sprecherin auf einen der Stühle, schaute, wortlos Aufmerksamkeit gebietend, in die Runde Kulturbeflissener, denen die Wörter im Halse stecken blieben und sich noch ganz vereinzelt als ein ein nur teilweise unterdrücktes Hüsteln entluden. Die Sprecherin mit dem aufmerksamen Blick, kurzem rotem Haar und eleganter, auf die Haarfarbe abgestimmter Kleidung hatte das Wort. Sie blühte auf.
 
In der linken Hand hielt sie das Manuskript; der rechte Arm diente ihr wie zum Selbst-Dirigieren. Sie erweckte die „found words“ von Manfred Werder zu neuem Leben, ein gefundenes Fressen:
 
Spinne
 
Frau Schimag schaute bedeutungsschwanger in die Runde, dann auf ihr Manuskript, entzifferte in Ruhe das nachfolgende Buchstaben-Quartett:
 
Luft
 
... hauchte sie. Pause. Die Sprecherin suchte geduldig ihr Papier ab. Dann, nach kurzem Unterbruch fündig geworden, gönnte sie uns ein weiteres Wort:
 
Eukalyptus
 
... und wenig später sprach sie ein grosses Wort gelassen, ganz leise aus:
 
Wespe
 
Im Stillen assoziierte ich mit Stich, behielt das aber für mich, wollte da nicht mitreden. Und dann quoll es bedeutungsschwanger aus der Sprecherin hervor:
 
Blütenblätter
 
Die Freude der Wespen lag in der Luft. Und das war noch längst nicht alles. Frau Schimag schien sich in die papierene Textvorlage hineinzugraben, deren Tiefe bis in den hintersten Winkel auszuloten. Wie ein Hammer mit Schalldämpfer prasselten einige weitere Buchstaben nieder:
 
Regen
 
Die Wortkomposition hatte ihr Ende, an dem das Wort war, gefunden.
 
Ein neues Poem folgte:
Eine Anhöhe
Ein Tal
Eine Bergkette
Eine Tiefebene
Eine Hochebene
Ein Flussdelta
Ein Fjord
 
Die Wörter, zu ganzen Landschaften aufgetürmt, blieben in Raum und Zeit stehen, bis sie endlich von Werken des Jos Nünlist („Tränenstein. Sonnenstern“) überlagert wurden. (Eine „Landschaft mit Wörtern gibt es übrigens am Schlossplatz auch in einer Klangraum-Installation von Jürg Frey.)
 
Und eine Frage, die ich mir auch schon gestellt hatte, wurde in literarisch veredelter Form aufgenommen:
 
„Warum sprichst du leise,
immer leiser?“
 
Sie blieb unbeantwortet. Und dann, ganz leise, ein Verhaltensmuster:
 
„Vor dem Fenster am Himmel gehn Wolken vorbei. Ich verbringe mein Leben am Tisch.“
 
Und noch besinnlicher:
 
„Wenn Schnee und Kälte die Grashalme brechen, warte ich am Fenster, bis sich die Eisblume öffnet.“
 
Nach der Entschleunigung dann die Rückkehr zu den Wurzeln – wie der Saft eines Baums angesichts der Winterstarre:
 
„Wie eine Spinne am Herkunftsfaden zurück unterwegs.“
 
10 Minuten Pause. Ich schaute mich um, fand im Saal 3 die Denkmaschine von Thomas Geiger, die nach dem Zufallsprinzip aus beliebigen Adjektiven, Ding- und Tätigkeitswörtern durch Raddrehungen Kombination aus 3 Wörtern erstellt, um alltägliches Sehen neu zu entdecken, um neu zu denken.
 
Verena Thürkauf hat das Wort denken mit Grossbuchstaben aus Gips auf ein kleines Gestell gestellt („bitte nicht berühren“), wo sie an Bücher erinnern, zum Denken und zur sprachlichen Äusserung anregen. Ein kleiner Anklang an die beliebten Buchstabensuppen, diesmal aber aus gastronomischer Sicht ungeniessbar.
 
Sadhyo Niederberger hat Besprechungen aus dem Kunstbulletin auf ihre Wieworte (Adjektive, die etwas beschreiben) hin untersucht und mit Sorgfalt ausgeschnitten. Jetzt ragen sie als Pop-ups aus der Bildfläche, hinterlassen Lücken oder dunkle Streifen in den Texten. Man kommt ins Grübeln.
 
Ich begab mich wieder in den Hörsaal zurück. Gleich hinter meinem Klappstuhl hingen 5 Anagramme zum Thema „Rose-Eros“ des amerikanischen Poeten und Fluxus-Künsters Emmett Williams (1925‒2007). Die erotischen Anspielungen des Spassmachers sind unverkennbar, halten aber selbst amerikanischen Prüderien die Stange. Die in einen Kreis eingezwängten Buchstaben ROSEROSEROS ... befreien sich, schwimmen wie Fische und Würmer zur Seite, bis sie zu Spermen geworden sind.
 
Den keuchenden Hund hat er Williams beschrieben
hh
und
hh
und
hh
und
hh
und
hh
 
Inzwischen war die Zeit für den Auftritt von Marianne Schuppe („Songs“) gekommen; sie stammt aus Göttingen D und wohnt in Basel. Sie ist eine künstlerisch tätige Grenzgängerin, arbeitet mit Sprache, Texten und Tönen, improvisiert zeitgenössische Repertoires. Ihre fast gregorianischen Gesänge begleiten Töne, die von einer aufgebahrten Laute erzeugt werden, indem eine einzelne Saite von einer E-Bow elektromagnetisch in Schwingung versetzt wird. Dadurch können anhaltende, gleichmässige Töne erzeugt werden; eine Spule dient als Tonabnehmer. Die Schwingungen von menschlicher Stimme und Technik erzeugen neuartige Klänge. Die Sätze bauten sich aufeinander, wiederholten und überschlugen sich. Kapriolen:
 
„Was länger ist als kurz, ist Echo.
Echo ist lang klingender Knochen.“
 
Solche Aussagen entfalten ein Eigenleben, verwirbeln sich, wie bei den angegrauten Dadaisten, die in der grauen Vorzeit des Herumhackens auf Wörtern das Lautgedicht erfanden, Wörter schonungslos aufbrachen und den Buchstabenfragmenten eine neue Bedeutung gaben. Der Sprachsinn musste weichen, rhythmischen Klanbildern Platz machen.
 
Bei Ueli Sager („Hier knotet U.S. [Kunsttheorie]“) verwirbelten sich ganze Sätze. Das Hörstück ist zum Hören da, weniger zum Verstehen, wobei es durchaus lichte Momente gibt, in denen man etwas zu verstehen glaubt. „Lapidare Fantasie rentiert gewaltig.“ Seine Zuneigung gehört dem Anagrammieren, dem Austüfteln von Wörtern mit gleichen Buchstaben als Sprach-Spiel oder: Sprach-Arbeit mit Lustgewinn.
 
P.S.:
EIN
st
EIN
NIE
st
NIE
!
 
Texte können zu Textur werden.
 
Weitere Programmpunkte standen bevor: Kurt Schwitter („Ursonate“), John Cage („empty words“), Pierre Thoma („Wort – Worte“), Oswald Egger („Die ganze Zeit“), Robert Lax („seven episodes“), Ernst Jandl („Gedichte“), Mauser („Haikus“) und Sabine Trüb („Schönwörterlisten“).
 
Vor bzw. über dem Fenster des Hauses im Schlossplatz hatten sich die Wolken gelichtet. Ich ging hinaus. Lauter Kunst. Kunst überall.
 
Ich wanderte heimzu, nach Biberstein. Der Aare entlang. Das Kraftwerk Rüchlig mit seinen Geräuschen. Wassergischt. Kiesbänke. Flammende Buchen. Herbstfarbe. Auen. Suhrebrücke. Biberfrass. Bagger. Aarebrücke. Pirat. Mühlistäge. Dorf. Haus. Laub. Besen.
 
Ich glaube: Jetzt hat's auch mich erwischt.
 
er
wischt
 
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