Textatelier
BLOG vom: 11.10.2011

Bischofszell TG: Ein Bijou für Bischöfe, Patrizier und Besucher

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Das thurgauischen Städtchen Bischofszell im Bezirk Weinfelden hat mich spontan begeistert – wie eine reife, stilvoll geschmückte Frau voller Anmut, an welcher der Blick förmlich kleben bleibt. Der Vergleich mag unstatthaft sein; doch fusst er auf Respekt nach beiden Seiten.
 
Die Altstadthäuser, zum Teil überreich verzierte Barockbauten, sind in einem tadellosen Zustand, und da sind kaum störende Elemente ausser den Motorfahrzeugen, die sich bis heute nicht an den Stadtrand verbannen liessen. Die angeschriebenen Häuser (Wirtschaften) sind so beschriftet, wie sie es immer waren; aber ein plakatives Werbegeschrei, diese optische Umweltverschmutzung, kennt man nicht. Sogar die bevorstehenden National- und Ständeratswahlen vom 23.10.2011 mit ihren sonst üblichen, trostlosen Alleen aus lächelnden Kandidatenköpfen, die einfach Präsenz markieren und offenbar keine konkrete Aussage haben, fanden hier keinen Eingang. Die Altstadt ist plakatfrei. Ich ziehe den Hut vor so viel gutem Geschmack.
 
Stadt-Rundgang
Am 04.10.2011 konnte ich an einer Stadt-Führung mit der eingeheirateten Engländerin Frances Bischof teilnehmen. Voller Inbrunst schwärmte die ortskundige Dame zwischen Gassen und Häuserzeilen, beim Schloss, beim Rathaus, angesichts des Bürgerhofs, des Regionalmuseums, des 1945 renovierten Kornhauses usf. von diesem Städtchen, in dem es einst 32 Wirtshäuser gab, und sie zeigte alte Fotos aus vergangenen Zeiten. Das bauliche Schmuckstück wurde 1987 mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet, ,,weil Behörden und Bürger mit der historischen Bausubstanz so einfühlend umgingen“, also aus besten Gründen. Vor allem in den 1970er-Jahren haben viele Hauseigentümer zum prächtigen Erscheinungsbild der kleinen Stadt beigetragen.
 
Das Bewusstsein für eine Architektur, die nicht in einem stilistischen Chaos im Rahmen der schematischen Fertigbauweise, wenn immer möglich mit Materialien aus der Kunststoffbranche, versinkt, erstreckt sich im Falle von Bischofszell über die Altstadt in der Form einer liegenden 8 hinaus. Rund um sie wurden Neubauten erstellt. Gärten und Parkanlagen mit vielen Rosen und dem Duftrosengarten beim Museum, eine jahrhundertealte botanische Tradition des Orts, betonen die ruhige, friedliche Stimmung, ein Hauch von den besten Seiten des Mittelalters, das ja nicht immer nur ein reines Honiglecken bot. Viele Brunnen mit gutem Trinkwasser bereichern das Stadtbild, wovon einer fahrbar ist, im Winter also entfernt werden kann. Dann gibt es einen Parkplatz mehr. Und die sind rar.
 
Die Grubenmann-Dynastie am Werk
3 Stadtbrände haben Bischofszell heimgesucht; am schlimmsten wütete das Feuer am 16.05.1743, als 70 Gebäude zerstört wurden. Die vielen Holzschindeldächer fingen schnell Feuer, das bei der häufigen Verheizung von Holz auch zu Kochzwecken, Kerzen und Talglichtern in den Häusern allgegenwärtig war. Brandmauern zwischen den Gebäuden gab es noch nicht. Das Feuer diente der Desinfektion und liess neue städtebauliche Erkenntnisse zu. Das Städtchen Bischofszell wurde nach der Katastrophe von 1743 nach Plänen der Gebrüder Grubenmann aus Teufen wieder aufgebaut; die Begegnung mit Werken dieser Naturtalente überraschte und freute mich gleichermassen. Jakob Grubenmann hatte in Bischofszell bereits 1737 den Brüdern Adrian und Johann Laurenz Wetter je ein herrschaftliches Handelshaus erbaut. Und im Thurgau war Jakob Grubenmann auch als Erbauer von 2 Kirchen bekannt (Weinfelden und Neukirch).
 
Nach dem Bischofszeller Brand kamen Jakob (1694‒1758) und seine jüngeren, ebenso talentierten Brüder Johannes (1707‒1771) und Hans Ulrich Grubenmann (1709‒1783) wieder zum Zuge; sie waren insbesondere als hervorragende Brückenbauer berühmt, schafften Spannweiten von gedeckten Holzbrücken wie sonst niemand. Ihre Werke werden heute noch bewundert: Ingenieurskunst auf der Grundlage von Intuition, von Gefühl.
 
Schon 14 Tage nach dem Brand legten die Baumeister ihre Ideen für den Wiederaufbau von Bischofszell vor, die dann in leicht modifizierter Form verwirklicht werden konnten. Auch der neu erkorene Bischof Casimir Anthonius in Meersburg D mischte mit, gab seine Wünsche bekannt und erteilte wohl auch seinen Segen. Er verordnete eine architektonische Einheitlichkeit, auch was die Höhe der Neubauten anbelangte. Dieser himmlische Einfall scheiterte allerdings an den unterschiedlichen irdischen baulichen Möglichkeiten der Minderbemittelten einer- und der Patrizier anderseits. Die weniger Begüterten wurden in einfachere Bauten ins Unterstädtchen abgedrängt. Auch reine Steinbauten liessen sich kaum durchsetzen, so dass man sich mit Riegelhäusern mit durchlaufendem Verputz zufriedengeben musste.
 
Die Gebrüder Grubenmann wurden vor allem für die repräsentativen Patrizierhäuser wie die Scherbhäuser „Rosen- und Weinstock“ (Marktgasse 57/58) herbeigezogen, wo Steinmauern erschwinglich waren. So entstanden in der Mitte des 18. Jahrhunderts repräsentative Beispiele für die bürgerliche Wohnkultur, die man noch heute bewundert. Jakob Grubenmann aber beobachtete die Leistungen anderer Gesellen und Handwerker genau und bezeichnete deren Arbeiten gelegentlich als Pfuscher- und Spitzbubenwerk. Der Appenzeller war ein richtiggehender Qualitätsgarant.
 
Selbstverständlich gab es auch noch andere talentierte Baumeister, so etwa Johann Caspar („Gaspare“) Bagnato (Insel Reichenau), welcher das Bischofszeller Rathaus-Bijou erschuf: ein würfelförmiger, dreigeschossiger Verputzbau unter Mansardwalmdach im Stil des Barock, das frontseitig einen Quergiebel mit originellem Dreipassfenster zeigt. Die sich wie üppige Brüste vorwölbenden, reich verzierten Fenstergitter sind Ausdruck einer überbordenden Fantasie der Kunstschmiede. Optische Anziehungspunkte sind das zentrale, pilastergerahmte Portal, durch das eine zweiläufige Treppenanlage mit Zwischenpodesten zu erreichen ist, sowie der im ersten Obergeschoss scheinbar schwerelose, sich ebenfalls vorwölbende Balkon. Nach dem Urteil des Kunsthistorikers Linus Birchler handelt es sich beim Rathaus um den „zierlichsten öffentlichen Profanbau der alten Schweizer Kunst“.
 
Im Obergeschoss konnten wir uns in den Bürgersaal unter meisterhafte Stuckaturen italienischen Zuschnitts setzen, geschaffen vom Vater Pozzi und seinen Söhnen aus Mendrisio TI. In diesem schönsten Saal der Stadt fühlten wir uns wie gereifte Bischofszeller Bürger spätmittelalterlichen Zuschnitts.
 
Am Altan (Austritt aus dem Gebäude) ist ein Wappen, flankiert von den Allegorien „Gerechtigkeit“ und „Stärke“, angebracht, eine ideale Kombination, die inzwischen, vor allem was den 1. Teil anbelangt, etwas Schlagseite erhalten hat. Kleinschmuck begegnet dem aufmerksamen Besucher im Ort allerorten.
 
Die Industrie beim Zusammenfluss von Sitter und Thur
Bereits zur Zeit der Französischen Revolution befand sich eine Druckerei in Bischofszell. Diese in die Geschichtsbücher eingegangene Diethsche Druckerei verbreitete subversive Schriften, unter anderem das „Ochsenbüchlein“ mit dem berühmt-berüchtigten Entwurf für eine helvetische Staatsverfassung des franzosenfreundlichen Basler Staatsschreibers Peter Ochs (1752‒1821). Er war so etwas wie ein vorpreschender Früh-Globalisierer, wollte einen modernen Zentralstaat schaffen, in dem die Kantone gerade noch als Verwaltungseinheiten Platz gefunden hätten. Nachdem französische Truppen im Frühjahr 1798 eidgenössische Gebiete besetzt hatten, proklamierte Peter Ochs am 12.04.1798 vom Balkon des Aarauer Rathauses aus die Helvetische Republik, die nach seinen Vorstellungen eng an Frankreich angebunden sein sollte; er würde heute von den Linken mit Handkuss in den Bundesrat gewählt. Politische Gegner bodigten dieses Ansinnen der Abgabe der Selbständigkeit erfreulicherweise gleich.
 
Das Städtchen Bischofszell, einst Kloster und Burg-Städtchen, thront auf einer Molasse-Terrasse auf etwa 500 Höhenmetern oberhalb des Zusammenflusses von Sitter und Thur, die steile Ufer ins Gelände geschnitten haben. Unter der Hügelsporn siedelten sich die Industriebetriebe: zuerst Leinen-, dann Baumwollwebereien, später die Papier- und die Nahrungsmittelindustrie. Letztere nahm ihren Anfang mit der Obstverwertungsgenossenschaft Bischofszell (Obi), die von mostindischen Bauern gegründet wurden, damit sie ihr Mostobst absetzen konnten. 1976 entstand die Thurella neben der Obi-Gruppe. Ein bekanntes Unternehmen ist die Molkerei Biedermann, die seit 2011 zu Emmi gehört.
 
Besuch bei der „Bischofszell AG“
Noch bedeutender ist die Bischofszell Nahrungsmittel AG (Bina), der ich im Rahmen einer kleinen Gruppe Interessierter dank der Vermittlung des ehemaligen Jowa-Geschäftsleiters Magnus Würth aus Gränichen AG einen Besuch abstatten konnte. Wir wurden vom neuen Bina-Geschäftsleiter Otmar Hofer, diplomierter Lebensmittelingenieur, der früher ebenfalls Mitglied der Jowa-Geschäftsleitung war, mit allen Ehren empfangen, informiert und von seinen Mitarbeitern durch den rund 900 Mitarbeiter zählenden Betrieb geführt. Uns hat neben dem unbedingten Engagement der Bereichsleiter auch die Vielseitigkeit des durchrationalisierten Unternehmens beeindruckt, das im Jahr 2010 knapp 600 Mio. CHF Umsatz erzielte.
 
Die Bina produziert jährlich etwa 130 Mio. l Getränke wie Eistee, von dem heute in der Schweiz mehr als Bier getrunken wird, sodann Fruchtsäfte, Fertiggerichte, Kartoffel-Chips (zum Teil auch für „Zweifel“) wie Wasabi-Frites mit Meerretticharoma, 6500 Tonnen Pommes frites pro Jahr usf. – jährlich werden etwa 50 000 t Erdäpfel verarbeitet. Hinzu kommen Ravioli, Fruchtzubereitungen wie Konfitüre und Vermicelles, sodann Spinat, der als „Lieblingsgemüse der Schweizer“ bezeichnet wurde, usf. Das alles wird auch für Grossverbraucher hergestellt und in den gewünschten Klein- oder Grossmengen möglichst schnell und frisch vertrieben. Aprikosen, Kirschen und Rhabarber stammen aus der Schweiz; sonst muss vieles importiert werden. Etwa 2/3 der Bina-Produkte gehen an die Migros (M).
 
Wenn man die Sturzfluten von Pommes-frites-Stäbchen, die von Förderbändern zu den Verpackungsmaschinen geführt werden, die Riesengefässe mit Pizza- und anderen Saucen sieht und Stahlbehälter voller Berliner-Füllung begegnet, staunt man darüber, wie unendlich viel vom stets hungrigen Volk zusammengefressen wird. Und wenn ich es wage, solch einen kraftvollen Ausdruck in den Mund zu nehmen, dann nur unter Hinweis darauf, dass ich mich davon nicht ausnehme.
 
Nicht das grosse Fressen, aber die Bischofszell Nahrungsmittel AG hat mit der 1909 durch David Tobler gegründeten Konservenfabrik Tobler & Cie. begonnen, die zuerst einmal Früchte dörrte und weitere Trockenprodukte und Kondensmilch herstellte. 1945 kaufte der Migros-Genossenschafts-Bund das Unternehmen auf und gab ihm den Namen Konservenfabrik Bischofszell AG. Dann wurde diese Fabrik zunehmend vergrössert, wobei auch ständig Massnahmen zur Umweltentlastung ergriffen wurden, wie im M-„Dossier Umweltschutz 2010“ nachzulesen ist. Ein Verpackungsleitbild sorgt beispielsweise dafür, dass bei gleichbleibendem Inhalt weniger darum herum ist.
 
Kulturelles Schlaraffia
In der Tourismus-Werbung wird der Thurgau als Kultur- und Schlaraffenland bezeichnet. Und im Haus Marktgasse Nr. 2 mit der von Grubenmann 1744 entworfenen Treppenanlage, die über die Durchfahrt zum Leinwandgewölbe ansteigt, ist folgerichtig das Paradiesgärtlein, eine um 1600 entstandene Bohlenmalerei, zu sehen. Nach einem Aufenthalt in der selbstbewussten Stadt, die einst als Stützpunkt der Konstanzer Bischöfe gegen St. Gallen diente, kann man das alles mit bestem Gewissen als zutreffend bezeichnen. Nicht umsonst liess der Konstanzer Bischof Salomo I. seine Zelle als klösterliche Anlage in Bischofszell/Thurgau (im heutigen Stadtteil „im Hof“) zwischen den beiden Machtzentren erstellen, wie eine Urkunde von 904 aussagt: „Salomon Episcopus residet cellam suam in Turgovia.“ Eine Burg diente als Verwaltungszentrum. 1248 war daraus ein „Oppodium“ entstanden, ein ummauerter Bezirk, also nach mittelalterlicher Auffassung eine „Stadt“. Bischofszell erhielt zu jener Zeit das Stadtrecht.
 
Sozusagen auf religionsgeschichtlichen Spuren reisten wir von Bischofszell nach Konstanz und mit der Fähre nach Meersburg weiter (Fortsetzung folgt) – an Leib und Seele gestärkt. Baumeister und Produkte-Ingenieure trugen dazu bei.
 
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Tips
Thurgau Tourismus
Egelmoosstrasse 1
CH-8580 Amriswil
 
Quellen
Schweizer Heimatschutz: „40 Wakkerpreise 19722011“, Schweizer Heimatschutz, Postfach, CH-8032 Zürich 2011.
Stadt Bischofszell: „Episcopaliscella. Bischofszeller Jubiläen“, Stadt Bischofszell, Rathaus, Marktgasse 11, CH-9220 Bischofszell 2000.
Zeller, Willy: „Reizvolle Schweizer Kleinstadt“, Ringier & Co. AG, Zofingen (ohne Jahresangabe).
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