Textatelier
BLOG vom: 26.07.2011

Die Kultur des Schuldenmachens: Selbst Irrlichter erlöschen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wenn die Wirtschaft gut läuft, geht es allen gut. Wenn es allen gut geht, können sie viel kaufen, und die Wirtschaft läuft noch besser. Der gute alte Henry Ford (1863‒1947) wusste das. Er erhöhte die Löhne seiner Autobauer, kurbelte die Produktion an, damit die Benzinfresser billiger wurden und immer mehr Leute Autos kaufen und als Statussymbole zur Schau stellen konnten. Der Fordismus machte weltweit Karriere.
 
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts breitete sich der Neoliberalismus exzessiv aus, gewissermassen eine Säule der schleichenden Globalisierungskatastrophe mit dem Durchgenormten vom Essen über die Unterhaltung bis zum Denken. Um es bildhaft auszudrücken: Das Einheitsgrün löste eine saftige Blumenwiese ab. Der möglichst ungeregelte Markt ohne Handelsschranken wurde zur dominanten Grösse, damit sich der Einheitsbrei global ausbreiten konnte. Wer – auf welchem Wege auch immer – am meisten Gewinn einfuhr, war und bleibt der Grösste. Alles andere zählt nicht; Schäden werden übersehen.
 
Dass dies eine ideologische Irrlehre ist, zeichnete sich von Anfang an ab. Jetzt aber werden die Auswirkungen allmählich dramatisch. Das System würde nämlich nur funktionieren, wenn es ständig wachsen könnte; Stagnation oder rückläufige Umsätze erträgt es nicht. Selbstverständlich leuchtet jedermann ein, dass das auf einer begrenzten Erde nicht auf Dauer funktionieren kann. Aber man glaubte dennoch an ein unaufhaltsames Blühen durch Aufblähen, an übernatürliche Eigenschaften und Kräfte, wie sie zu Religionen gehören – das System wurde zum Fetisch, gebar den Marktfetischismus, genau genommen. Eine ununterbrochene Gehirnwäsche schuf die Voraussetzungen dazu.
 
Über den Bedarf und die Möglichkeiten hinaus
Der Neoliberalismus ist auf Menschen angewiesen, die immer mehr kaufen, kaufen, kaufen. Der Fordismus genügt nicht mehr. Die Leute müssen dazu gebracht werden, weit über ihre Verhältnisse zu leben, und die Staaten ihrerseits tun das noch so gern. Linksorientierte Politiker, die auf öffentliche Kosten viel versprechen, sind beliebt; wenn sie genug Unheil angerichtet haben und die Rechnung präsentiert wird, ist ihre Zeit abgelaufen. Ihr Rücktritt ist fällig. Ihre Nachfolger, die vorerst unschuldig sind, haben das Schlamassel auszubaden und geben neue Versprechen ab. Und so weiter.
 
Die US-Amerikaner, auf Weltbeherrschung um jeden erdenklichen Preis (sogar des eigenen Untergangs) erpicht, zeigten, wie es geht: Private und der Staat verschuldeten sich in einer Weise, die nur als gigantisch bezeichnet werden kann. Das Gesamtbild der Verschuldung aus dem Total von Staats-, Unternehmens- und Privatschulden wagt man schon gar nicht mehr zu berechnen. Dass sich so ein Schwachsinn flächendeckend durchsetzen konnte, muss zu einem guten Teil die Folge der vernachlässigten Bildung sein: Eine repräsentative nationale Untersuchung kam im Juni 2011 zum Schluss, dass die Bildungskrise in den USA viel schlimmer als bisher angenommen ist. Aushängeschilder wie die schöne Sarah Palin versagen auch bei einfachsten geschichtlichen Fragen; oder man erinnere sich bitte an die Geografiekenntnisse eines gewissen George W. Bush.
 
Barack Obama seinerseits verweigert das Sparen hartnäckig, bis er nicht einmal mehr Geld für seine eigenen tollen Sozialprogramme wie die Krankenversicherung hat. Er will einfach immer mehr billiges Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen, setzt nicht auf Sparen und Wertschöpfung, sondern auf Drohnen und die riesige Klageindustrie, die Geld einzutreiben hat. Die Vernunft blieb auch bei diesem messianischen Hoffnungsträger auf der Strecke. Was auf nachfolgende Generationen zukommt, ist nicht auszudenken, abgesehen vom neuen Klassenkampf, weil vor allem einmal der Mittelstand enteignet werden muss, damit die sozialistische Umverteilung funktioniert; die privilegierten Reichen finden ihre Auswege schon.
 
Das Hauptgewicht wurde und wird in traditioneller Manier in Washington tatsächlich nicht auf eine gute Allgemeinbildung, sondern auf Kriegsführungen und eine weltumspannende Freibeuterei gelegt; den Kaperbrief haben sich die Amerikaner gleich selber ausgestellt. Daneben können sie der Welt ungestraft Wertpapierschrott und sogar Schulden auch in Form von „Wertpapieren“ andrehen, ohne dafür für solche Übertölpelungen belangt zu werden; es war mir schon immer ein Rätsel, weshalb sich nicht die gesamte Restwelt gegen solche Gaunereien erhebt und das kriminelle US-Verhalten einklagt. Der Dollarzerfall entwertet ihre Schulden auf Kosten des globalen Dorfs, so weit dessen Bewohner auf die Leit- und Leidwährung Dollar hereingefallen ist. Noch schlimmer: Die Gauner erheben bei jeder Gelegenheit Anklage gegen die Hereingefallenen mit fadenscheinigen Argumenten, um Millionen zu erpressen – und diese wehren sich nicht einmal. Dazu zitierte die „NZZ am Sonntag“ am 24.07.2011 den Schweizer FDP-Wirtschaftpolitiker Ruedi Noser mit den Worten: „Das ist Wirtschaftskrieg, Imperialismus pur.“ Gegen die gefürchtete Schreckensherrschaft der Mächtigen ist schwer anzukommen: Lehren aus der Geschichte. Das Mittelalter dauert an.
 
Höhenwachstum des Schuldendachs
Die USA hat sich zum Schein eine Schuldenobergrenze gesetzt, die bei Bedarf einfach erhöht wird. „Niemand weiss, wo sie liegt, aber jeder weiss, dass sie erreicht ist“ (so Gottfried Bombach, Pionier der mathematisch orientierten Wirtschaftstheorie). Sie wird munter hinaufgesetzt, um den Staatsbankrott hinauszuschieben, wenigstens bis Nachfolger im Amt sind, und folgende Generationen müssen schliesslich auch etwas zu beissen haben. Das Desaster wird ständig vergrössert. Jede Schuldenausweitung wird als Erfolg gefeiert (siehe EU): „Befreiungsschlag“. Besonders, wenn sie nicht mit dem Willen zu Einsparungen verbunden ist.
 
Die Schulden müssen u. a. laufend vergrössert werden, um Gläubiger zufriedenzustellen. Und wenn man schon gerade am Schuldenausbau ist, können auch Geheimdienstoperationen und offene und verdeckte Kriege, letztere als Rebellen-Unterstützung, die man sich eigentlich nicht leisten könnte, zur Belebung der Kriegsindustrie und der Ausweitung des Einfluss- und Machtbereichs, weitergeführt werden. Im Moment wird gerade der Mittelmeerraum und der Nahe Osten im weitesten Sinne destabilisiert. Die Folgen tragen die Einwohner – in Tunesien, wo die Destabilisierungsaktion erfolgreich gestartet werden konnte, ist der Tourismus zusammengebrochen, und im Lande herrscht das Chaos. Die Bevölkerung meint, Demokratie und Freiheit bedeute, sich an keinerlei Regeln mehr zu halten und das Arbeiten wo immer möglich aufzugeben.
 
Währenddem der Westen Unruhen anstachelt und Aufständische bezahlt, kauft ein erstarkendes China in aller Seelenruhe die Welt zusammen, setzt auf Ausbildung, bietet auch technische Lösungen an und stellt sich als Friedensnation vor, währenddem die Amerikanisierten ihre Bomber in Aktion halten und Verwüstungen anrichten, ihren Ruf ruinierend, falls es hier noch etwas zu ruinieren geben sollte.
 
Die EU- und Euro-Fehlkonstruktion
Eine Fehlkonstruktion unter dem globalisierten, neoliberalen Überbau ist die EU (Europäische Gemeinschaft). Auch darin sind viele Länder versammelt, die sich dem herrlichen, pompösen Leben auf Pump verschrieben haben. Es war sehr geschickt von ihnen, dass sie es dank des Euro-Schutzschirms verstanden haben, die Lücke, die das verprasste Geld hinterlassen hat, auffüllen zu lassen. Mit allen Folgen: Bereits werden Nekrologe auf den Euro geschrieben, der keine Zukunft haben kann. Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Politik muss zugrunde gehen. Und alle Befugnisse in Brüssel abgeben möchten nicht einmal krankhaft Europhile. Mehr staatliche und besonders überstaatliche Regulationen töten die Dynamik.
 
Die gesamte Griechenlandhilfe beläuft sich jetzt mit dem 2. Spendenpaket, am 21.07.2011 beschlossen, auf rund 260 Mrd. Euro. Das ist mehr als das Land in einem Jahr an Wirtschaftsleistung erzielt. Die EU hat mit dem Geld, das nirgends budgetiert ist und eigentlich nur als „Garantie“ besteht, einfach ziemlich viel Zeit gekauft, die abläuft, wenn grössere Zahlungen in Euro fällig werden, aber keine Probleme gelöst ‒ Verschiebungen vergrössern diese meistens. Die Langfristigkeit ist für einmal noch schlimmer als die heute übliche Logik der Kurzfristigkeit, die sich verhängnisvoll auswirkte.
 
Schon 1995 führte das am höchsten verschuldete Griechenland (seit 1981 bei der EU) den „Economic Outlook“ der OECD an; Brüssel schaute zu. Und im benachbarten Mittelmeerland Italien blühen das süsse Farniente und die Schulden ebenfalls: Die italienischen Schulden betragen 1911 Mrd. Euro – das wird die EU mehrfach überfordern, zumal vor Italien noch andere EU-Pleitestaaten auf Rettung warten.
 
Wie Ägypten damals
Bankrotte Staaten (immer mit Ausnahme von den USA, die sich den üblichen Abläufen trickreich entziehen dürfen) werden unter das Protektorat der Geldgeber gestellt. Das ist zugleich eine Schirmherrschaft und Vormundschaft (Kuratel). Afrika-Hilfen verfolgen den gleichen Zweck, der klassische Neokolonialismus.
 
Ein geschichtliches Beispiel ist Ägypten: 1875 übernahmen die Kolonialmächte England und Frankreich die Kontrolle über die Finanzen, und wer die Gelder kontrolliert, kontrolliert das gesamte Staatsgeschehen, weil ja alles mit Geld zu tun hat. Ägypten probte den Aufstand gegen diese Unterdrückung, worauf England 1882 das Land militärisch besetzte. Jetzt ist Griechenland unter der Kontrolle der EU-Oberherrschaft, und weitere EU-Länder werden folgen: Irland, Spanien, Portugal, wahrscheinlich auch Italien.
 
Der Prozess ist sogar bis in die eingebetteten Medien vorgedrungen. Sie mussten das Herunterspielen aufgeben und schreiben jetzt unverhohlen von ungelösten Schuldenkrisen und deren Übergreifen auf andere Länder, berichten über Krisensitzungen von Hochrangigen, von Notmassnahmen, von einer Schuldengrenze von 14,3 Billionen USD, von Schuldenbremsen, Schuldenschnitt, Schuldentragfähigkeit, Anhebung der Schuldenobergrenze, Rettungshoffnungen, Sondergipfeln der übernächtigten bis umnachteten Staats- und Regierungschefs, Rettungsschirmen für ein krankes System, drohender Aberkennung der Topbonität (was schon längst fällig gewesen wäre), von Umschuldung und dergleichen. Das tägliche Medien-Fastfood. Sie weisen auf Suchaktionen nach magischen Formeln gegen Zahlungsunfähigkeit hin, berichten über vorsichtige Einigungshoffnungen, Schicksalsfragen, Unsicherheiten und Börsentalfahrten – und (so der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel, FDP) von einer „irrlichtenden deutschen Aussenpolitik“. Angesichts des Zerfalls der Finanzarchitektur sind Notfallpläne in Vorbereitung. Folgen: Unruhen, humanitäre Dramen. Das soziale Netz zerfällt. Ende des Wohlfahrtsstaats. Die Säulenheiligen der Ausgabenpolitik kippen vom Sockel. Und neue klettern hinauf.
 
Globalisierungsresultat
Soweit das bisherige Resultat der neoliberalen Globalisierung mit der westlichen Leitkultur des Verbrauchs und der Verschwendung, das wirklich zuversichtlich stimmt ... Die verfeinerte Kultur des unbegrenzten Schuldenmachens hat die Obergrenze überschritten, von deren Existenz niemand gewusst zu haben scheint, ob sie nun in Dollars definiert ist oder nicht. Der über alle Kanäle und Leinwände propagierte amerikanisierte Lebensstil endet für die Massen in einem tiefen schwarzen Loch, wo die Schuldenfalle ist und es vor lauter Dunkelheit nicht einmal mehr Irrlichter gibt. Als Verlierer kommt neben den unteren Einkommensschichten vor allem der Mittelstand zur Kasse, dessen Ersparnisse staatlich eingezogen werden. Steuern gehen an die Substanz. Die Schweiz ist vorläufig noch eine erfrischende Ausnahme und als Zufluchtsort entsprechend beliebt. Vielleicht muss sie durch eine partielle Devisenkontrolle versuchen, übermässige Kapitalflüsse zu verhindern, wenn sie nicht Opfer ihres eigenen Erfolgs werden will.
 
Den USA kommt das Verdienst zu, dass sie als Pioniernation unbeherrschter Schuldenmacherei (offenbar sind Kriegsgeschäfte doch nicht so einträglich) der Weltöffentlichkeit vorführen, dass das Problem unlösbar ist. Die einzige Pseudolösung sind zusätzliche Schulden, die eine steigende Zinslast bedeuten und den finanziellen Spielraum noch mehr einengen. Probleme werden aufgeschoben und vergrössert, den nächsten Generationen überlassen. Oder man arbeitet auf eine Währungsreform (Dollar-Totalzerfall) hin, mit welcher alle Gläubiger abgeschüttelt werden, auf dass ein neues Spiel getrieben werden kann.
 
Die Unlösbarkeit der Schuldenwirtschaft resultiert daraus, dass man zwar über Steuererhöhungen und Sozialabbau für weniger Staatsausgaben sorgen könnte; das aber würde dem Fordismus entgegenwirken, die Wirtschaft litte. Zudem wären Proteste und Unruhen bis hin zu Strassenschlachten programmiert, wie überall dort, wo auf dem Buckel des Volks der Steuerzahler eine staatliche Misswirtschaft ausgebügelt werden muss. Zu den gleichen Folgen führen auch Steuererhöhungen. Die zunehmende Protest- und Demonstrationskultur in vielen Ländern liefert den Beweis täglich, führt zu massiven Polizeieinsätzen. Kriminalität, Willkür und Verlust an persönlicher Sicherheit sind unausweichlich. Wenn zur Lahmlegung der Geisteskräfte noch Streiks hinzukommen, werden zusätzliche Schäden angerichtet.
 
Der Pfad der Tugend wurde verlassen. Eine kleine Auswahl der Folgeerscheinungen bereiten die Medien zur Unterhaltung ihrer Nutzer freundlicherweise häppchenweise gern auf.
 
Quellen
Doll, Frank: „Zerfall der gesamten Finanzarchitektur“, Interview mit Felix W. Zulauf, WirtschaftsWoche 19.07.2011.
Schmidinger Thomas: „Demokratie statt Finanzprotektorat“, „Wiener Zeitung“, 21.07.2011.
 
Buchhinweis
Hess, Walter, und Rausser, Fernand: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“, Verlag Textatelier.com GmbH, CH-5023 Biberstein 2005. ISBN 3-9523015-0-7. CHF 37.20, EUR 24,10.
 
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