Textatelier
BLOG vom: 21.04.2011

Ammerswil: Langsames, kontrolliertes Erwachen im Waldtal

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Ammerswil AG (Bezirk Lenzburg) erfüllt alle Voraussetzungen für ein ruhiges Wohnen in einer geschützten, von Hügeln und Wäldern umgebenen Lage. Lenzburg mit seinem Bahnhof und dem A1-Anschluss ist in der Nähe. Wahrscheinlich sind die Ruhe und die untadelige Lage genau die Ursachen dafür, dass sich Füchse und Hasen dort immer weniger „Gute Nacht!“ sagen – das Dorf ist am Erwachen, droht unter die Agglomerationswalze zu geraten.
 
Bei der Kirche
Als ich mich am 13.04.2011 auf der Suche nach etwas Entspannung nach vielen Jahren wieder einmal ins Walddorf (450 m ü. M.) zwischen der Rietenberg-Hügelkette, der Hochrüti (562 m), der Hochwacht (667 m), dem Birch (591 m) und dem Lütisbuech (538 m) verirrte, stellte ich das Auto auf dem Parkplatz bei der Kirche ab, der wahrscheinlich so etwas wie der offizielle Durchgangsautofriedhof der gastfreundlichen Gemeinde ist. Mein Bedürfnis des Dankens für die gute Führung zu dieser Insel des Friedens jenseits der verstädternden Welt musste ich im Freien auf mein Navigationssystems beschränken, denn die Kirche romanischen Ursprungs, die im 15. Jahrhundert nach der Mode der Gotik umgestaltet wurde, war verschlossen. Darüber war ich nicht unglücklich, war es doch so angenehm in Gottes freier Natur. Wolken türmten sich vor dem himmelblauen Himmel auf und liessen der Sonne einen freien Durchblick ins Kirchdorf im Waldtal. Auf der vergeblichen Suche nach einem unverschlossenen Eingang in die Saalkirche mit dem Käsbissenturm und seinem kaum vorspringenden Dach absolvierte ich unwillkürlich einen Rundgang rund um die Kirche, die 1528 reformiert und 1770, 1948 und 1958 renoviert wurde, wobei ich gern einräumen will, dass auch die Reformation eine Art Renovation (Erneuerung) war; die Geschäftemachereien der römisch-katholischen Kirche wie der Verkauf von Ablassbriefen klebten wie Geschwüre an den heiligen Fassaden.
 
Ordnungssinn
Auch in Ammerswil, einem ohnehin sauberen Dorf, wurde diese Fiskalisierung ausgemistet. Im „Aargauer Tagblatt“ (AT) vom 22.06.1965 schrieb der lokalhistorisch interessierte Lehrer Fritz Nöthiger (-g-) aus Staufen AG: „Was den Besucher in Ammerswil sympathisch berührt, ist die überall zutage tretende Sauberkeit und Ordnungsliebe. Blitzblanke Häuser, gepflegte Gärten und mustergültige Strassen zeugen vom Fleiss und vom Ordnungssinn der aufgeschlossenen Bevölkerung, die sich eben anschickt, ihrer Jugend das Schönste zu geben, was eine Gemeinde der künftigen Generation zu bieten hat: ein neues Schulhaus mit Turnhalle als Stätte der geistigen und körperlichen Erziehung und Ertüchtigung.“ Viele Strassen waren damals noch schmal, nicht asphaltiert und so auf ihre Art mustergültig.
 
Der Bezirk Lenzburg lag damals, bevor ich ihn an ortskundigen, in Lenzburg aufgewachsenen Heiner Halder abtreten konnte, in meinem redaktionellen Zuständigkeitsbereich. Und so berichtete ich denn über die Schulhauseinweihung im AT vom 21.11.1966 persönlich: „Schulhauseinweihungen gibt es am laufenden Band – was ist schon dabei? Eine Schulhauseinweihung in Ammerswil hingegen gibt es nicht einmal jedes Jahrhundert einmal.“ Der Neubau einschliesslich einer über eine Pausenhalle verbundene Turnhalle in Massivbauweise waren vom Brugger Architekten Carl Froelich der Landschaft und den dörflichen Verhältnissen angepasst worden: unspektakuläre Zweckbauten (Kosten: 1,4 Mio. CHF für damals 60 Schüler) mit Satteldächern mit Schindelmantelunterzügen.
 
In Ammerswil hat offensichtlich alles seine Ordnung. Die Wege aus Rundkies um die Kirche herum waren bei meinem jüngsten Besuch so exakt ausgeebnet, dass ich kaum wagte, sie zu betreten und allenfalls Spuren zu hinterlassen. Ein älterer, freundlicher Mann mit einer Brille, die er in den Glatzenbereich hinauf geschoben hatte, und gepflegtem weissem Schnurr- und Kinnbart glättete auf der Friedhofseite die Kieswege mit einem Rechen, der genau so breit wie die Wege war. Ein blonder Knabe, der ihn begleitete, interessierte sich für meine Kamera. Im Hinblick auf die bevorstehenden Ostertage müsse eben alles gepflegt sein, sagte der Gärtner, erfreut darüber, dass jemand sein Tun in Ammerswil zu schätzen wusste. Er stützte sich auf den Rechenstiel, legte eine kurze, wohlverdiente Pause ein.
 
Farbiger Friedhof
Der Friedhof hat nichts von der Trostlosigkeit üblicher Gottesäcker mit ihren Anklängen an platzsparende Intensivkulturen gemein, ganz im Gegenteil: Gleich neben dem äussersten Gräberfeld sorgt eine 6-stämmige, offenbar aus einem Strauch herangewachsene japanische Zierkirsche für eine überschäumende, zartrote Dekoration, und auf den Feldern dahinter blühten in Weiss einheimische Hochstammkirschbäume. Steinerne Grabsteine stehen neben Holzkreuzen, unter denen die ewige Ruhe vielerorts beginnt; später werden sie durch eine steinerne Bildhauerarbeit ersetzt. Und die farbig bepflanzten Grabfelder sind durch Sträucher angenehm aufgelockert.
 
Offenbar ist es beliebt, in Ammerswil bestattet zu sein; denn angeblich schafften die Berner ihre Toten nach dem grossen Bauernkrieg im nahen Wohlenschwil (1653), an dem auch Ammerswiler teilnahmen, und nach den entscheidenden blutigen Schlachten der beiden Glaubenskriege von Villmergen (1656 und 1712) zur Bestattung nach Ammerswil. Dort sollte ihnen eine sanfte Ruhe gewiss sein.
 
Es sei noch immer ziemlich beschaulich hier, in Ammerswil, hielt ich das Gespräch im Gang. Ja, aber so wie früher sei es schon nicht mehr, antwortete der Gärtner, der sich mit einem dunklen Pullover gegen die Bise geschützt hatte. Man spüre, fuhr er fort, dass das untere Seetal im Raum Seengen zunehmend von Leuten besiedelt worden sei, die in Zürich und Umgebung arbeiten. Und deren kürzester Arbeitsweg führe eben via Egliswil und Chääle durch Ammerswil zu den grossen Verkehrsachsen im nur etwa 3 km entfernten Lenzburg.
 
Sehenswertes
Die Fahrt durch Ammerswil ist attraktiv. Zur Kirche gehört das 1783 von Carl Ahasver von Sinner erbaute Pfarrhaus in der Gestalt eines klassizistischen Berner Landhauses mit hohen Rechteckfenstern unter dem Walmdach, das zusammen mit den Wirtschaftsgebäuden eine sehenswerte Baugruppe bildet. Es ist eine Hinterlassenschaft der Berner Herrschaft.
 
Der 1877 geborene Ernst Amweg-Gehrig schrieb dem „Tit. Aargauer Tagblatt Aarau“ am 17.02.1965 in zittriger Handschrift, vor 100 Jahren (also um 1865) habe der Pfarrer von Ammerswil noch einen Landwirtschaftsbetrieb gehabt, und um 1905 sei die Obstpresse in einer Scheune hinter dem Pfarrhaus abgebrochen worden, da sie nicht mehr gebraucht wurde. Auch eine Waschküche und einen länglichen Brunnen habe es dort gegeben.
 
Das war einmal. Doch ganz in der Nähe und unmittelbar an der Strasse steht noch immer der Pfrundspeicher (Pfarrspeicher). Hier mussten also die Einwohner ihre Pfründe für den Pfarrer in Naturalien abgeben; der Speicher verwandelte sich so in eine pfarrherrliche Vorratskammer. Dieses Bauwerk ist ein spitzgiebeliger, zweigeschossiger Ständerbau auf einem massiven Holzschwellenrahmen mit einer ringsum überdachten Laube seit dem Jahr 1685. Die besondere Attraktion sind die spiraligen Bügen (ein Bueg oder Büeg ist laut Schweizerischem Idiotikon in der Holzarchitektur eine schräg stehende Stütze, Strebe). Nach den Angaben des „Kunstführers 1“ der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (2005) handelt es sich bei diesem Holzbauwerk um das „schönste aargauische Beispiel dieses im Bern- und Luzernbiet heimischen Speichertypus“. Daran besteht keinerlei Zweifel. Er ist ein Bijou alter Zimmermannskunst. Im Übrigen hält sich Ammerswil mit weltbewegenden Schaustücken zurück.
 
Die Landwirtschaft von heute erzeugt andere Bilder. 2 Gemüsebaubetriebe hatten grosse Teile des von ihnen bewirtschafteten Bodens mit Plastikfolie abgedeckt, um hier, auf der Wasserscheide von Aabach und Bünz, den Erntezeitpunkt vorzuverlegen. Sie sehen wie Wasserflächen in Schräglage aus, spiegeln das Licht, künden von einer Zeit der Ungeduld, des forcierten Wachstums.
 
Das Unvermeidliche im Griff
Dabei gab es im abgeschiedenen Ammerswil an sich noch nie eine Wachstumseuphorie. Bei der Genehmigung der Orts- und Zonenplanung am 06.12.1968 wurde betont, man wünsche keine Bevölkerungsexplosion und man sei nicht willens, eine das Landschaftsbild verunstaltende Überbauung hinzunehmen. Damals zählte Ammerswil 381 Einwohner. Heiner Halder kommentierte das im AT vom 14.10.1969 einfühlsam: „Planung bedeutet, das letztlich Unvermeidlich in geordnete Bahnen zu lenken, vorausblickend zu denken und unseren Nachkommen eine lebenswerte Umwelt zu erhalten.“ Tatsächlich blieb Ammerswil von Alpträumen verschont. Die Einwohnerzahl der Gemeinde wuchs seither kontinuierlich, seit 1990 allerdings etwas beschleunigt auf heute 684 Einwohner.
 
Im Wald
Um einen Eindruck vom Dorfbild zu gewinnen, wanderte ich hinauf zum Rebrain und weiter zum Wald „Lütisbuech“. Das Dorf gruppiert sich als grosses Oval um die Kirche, hat kaum störende Elemente (keine Industrie), wahrt die Proportionen. Diese Sorgfalt, wohl ein Ausdruck der Liebe der Ammerswiler zu ihrer einsamen Welt, die man im Griff hat, zu der man Sorge trägt, ist die Frucht einer stolzen Leistung über Jahrzehnte hinweg. Ein kleines, zweckmässiges Gemeindehaus zeugt vom Willen, die Selbständigkeit zu bewahren, die Geschicke der Gemeinde eigenhändig zu lenken.
 
Der Wald selbst ist von einem dichten Waldstrassennetz durchzogen, und zusätzlich haben schwere Walderntemaschinen mit wohl 50 cm breiten Pneus mit grosser Profiltiefe neben den schräg angeordneten Stollen Schneisen zwischen die Bäume gefressen. Da er nur wenig besonders steile Flächen hat, ist er leicht maschinell zu bewirtschaften. Eine Holzbeige, für die offenbar kein Käufer gefunden werden konnte, ist von Brombeerranken überzogen, und eine beige Katze balancierte auf einem am Wegrand liegenden Stamm. Der Waldboden spürte den Frühling, war bereits mit viel Grün überzogen. Leberblümchen, Scharbockskraut, Nesselarten, Waldveilchen, Buschwindröschen arbeiteten sich ans Licht, und die Laubbäume kleideten sich ein. Die Buchen zeigten sich in einem frischen Lindengrün ... sie mögen mir diesen Vergleich verzeihen. Die waagrecht ausgebreiteten Blätter fingen mit ihrer Breitseite das begehrte Licht ein, um Stärke zu erzeugen. Im mässigen Schatten dieser Bäume kann eine reiche Bodenflora aufkommen. Prächtig war der Anblick der spiralig aufgerollten Blätter des Wurmfarns, die wie Bischofsstäbe, nur weniger protzig, aus dem Boden gestiegen sind. Gut, dass Eingeweidewürmer (Band- und Spulwürmer) heute kein grosses Thema mehr sind und somit die Wurzelstöcke dieser Farnart, die man zur Herstellung eines Extrakts beizog, ihren Frieden haben.
 
Fünfstern-Strafanstalt Lenzburg
Ich war von Hendschiken bei Dottikon-Dintikon her (zwischen Lenzburg und Wohlen) nach Ammerswil gefahren und verliess den verträumten Ort Richtung Lenzburg. So kam ich an der dortigen, von 1860 bis 1864 erbauten Strafanstalt (moderner: „Justizvollzugsanstalt“) vorbei, ursprünglich bestehend aus einem panoptischen Hauptbau und 5 Flügeln und später mit Erweiterungsbauen versehen, umgeben von einer Sicherheitsmauer. An ein Fünfsterne-Hotel kommt sie allerdings nicht ganz heran. In den dortigen Werkstätten habe ich früher oft Buchbinderarbeiten ausführen lassen, die immer von grosser Sorgfalt zeugten.
 
Irgendwie machte sich bei mir auf der Weiterfahrt das Gefühl breit, mit der Gemütlichkeit sei es wieder vorbei. In Lenzburg stauten sich vor Verkehrsampeln die Fahrzeuge. In Ammerswil braucht es noch keine solchen neumodischen Einrichtungen.
 
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