Textatelier
BLOG vom: 24.11.2010

Die Trauerweide – Augenweide und ein Trauerspiel zugleich

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Wunderschön.“ Mit diesem Adjektiv beehrt meine naturverbundene Nachbarin Lislott Frei jeweils die kirchturmhohe Trauerweide, die beim Zugang zu unserem Grundstück, nur 4,5 Meter oberhalb von unserem Rebweg-Anteil, steht und mit ihren ausladenden, hängenden Ästen einen Vorhang über dem Vorplatz ausbreitet. Wenn ich die untersten, dem Boden zustrebenden, brüchigen Zweige nicht regelmässig zurückschneiden würde, hätte man beim Zugehen auf unser Haus das Gefühl, sich durch eine Autowaschanlage mit ihren Fransen vorzuarbeiten.
 
Der Baum sieht aus wie ein sich rundum weit öffnender, etwa 10 Meter hoher Springbrunnen, dessen Wasser bräunlich bis ockerfarben eingefärbt ist. Um den Brunneneindruck aufrecht zu erhalten, wirft er während 12 Monaten im Jahr kontinuierlich seine länglichen Blätter ab, oft gleich in Verbindung mit den brüchigen, rutenförmigen Zweigen, die Wurzeln bilden können. Kein Regen und kein Lüftchen geht spurlos an diesem Baum vorüber. Die einfach gekerbten, wechselständigen Blättchen werden durch die Regentropfen schwerer, verlieren ihre Befestigung und fallen ab. Ein bisschen Wind genügt, um gleich grössere Aststücke abzureissen, so dass sich also solche Bäume selber schneiden. Sturmwinde befreien den Baum von dickeren Ästen.
 
Der Baumriese, der sich immer wieder repariert und selber baumchirurgisch tätig ist, erinnert an einen Abrisskalender, der täglich nicht nur ein, sondern gleich mehrere von seinen fein gezähnten, lanzettlichen, zugespitzten, gelb-grünen Blättern, die in der Jugend flaumig behaart sind und sich im Herbst ins Braungelbe verfärben, abwirft. Oft ist er stark belaubt, dann wieder schütter im Laub, aber etwas zum Abwerfen hat er immer auf Lager. Im Frühjahr kommen mit dem Laubausbruch noch die gelblich blühenden Kätzchen mit den zahlreichen Kapselfrüchten dazu. Die Samen sind wollig und graubraun behaart.
 
Die Trauerweide (lateinische Namen: Salix alba Tristis, Salix × babylonica, eine Kreuzung mit der Dotterweide, Salix sp. var „pendula“, französisch Saule pleureur), eine von 300 bis 400 Weidenarten, trägt die Tristesse nicht nur in ihrem Namen. Die Traurigkeit, die sich bei vielen Menschen mit hängenden Mundwinkeln manifestiert, ergibt sich bei dieser Weidenart ebenfalls aus der Form, durch schleppenartig herabhängende Seitenzweige, was auch bei Birken und Rotbuchen vorkommen kann. Wahrscheinlich hat das seinen Grund darin, dass durch eine Art Öffnung des Baums der Lichteinfall verbessert wird, was durch abbrechende Zweige noch verstärkt wird. Jedenfalls pflegen wir Menschen solche Theorien zu entwickeln, ohne die Natur auch nur im Entferntesten zu verstehen. Denn wenn ja wirklich der Lichteinfall so wichtig wäre, müssten doch alle Bäume in einer Trauerform, die man auch Pendulaform nennt, herumstehen. Und wenn – um ein bekanntes Beispiel zu nennen – der Elefantenrüssel doch so ein unübertreffliches Werk- und Esszeug ist, dann fragt man sich schon, weshalb nicht alle Tiere und Menschen mit solch einem muskulären Organ, das zum Beispiel bei Tische den Aktionsradius vergrössern würde, ausgerüstet sind.
 
Die Trauerweide war in den 1970er-Jahren der Hit im Angebot der Gartencenters. Sie wurde aus ihrer Heimat China nach Europa verschleppt, im 19. Jahrhundert zuerst einmal nach Frankreich und dann verzüchtet. Es waren kleine Bäumchen, und kein Mensch dachte an ihre Schnellwüchsigkeit und die Sprengkraft ihrer Wurzeln, die oft ganze Grundmauern in Bedrängnis bringen. Auch mein damaliger und inzwischen verstorbener Nachbar wusste das wahrscheinlich nicht, der gleich 2 Trauerweiden zu nahe an unsere gemeinsam Grundstücksgrenze pflanzte – die 2. steht uns noch näher. Die Stämme mit ihrem Netz von senkrechten und welligen Streifen in der Rinde sind unten von Drahtnetzen geschützt, weil die Gartenequipe aus dem Schloss Biberstein gelegentlich ihre Schafe hier als Wiesenmäher einsetzt, was den Bäumen nicht schaden darf.
 
Aber das hindert die grosse Trauerweide, die unseren Hauszugang mit einem Teil ihres Dachs beehrt, keineswegs daran, selber Schaden anzurichten. Ihre oberirdische Erscheinung ist natürlich nur ein Teil des Ganzen. Der Rest spielt sich im Boden ab, und dort unten entfalten Pflanzen ungeheure Kräfte. Ich habe selber schon gesehen, wie Bäume ganze, tonnenschwere Mauern emporhoben, so etwa die Linden beim ehemaligen Kapuzinerkloster in Solothurn. Im asiatischen, buddhistischen Raum, wo die Ehrfurcht vor Bäumen eine ganz andere Dimension angenommen hat, strangulieren Bäume sogar Bauwerke und werden selber zu religiösen Monumenten auf Wurzelbauten, die während Jahrhunderten nach allen statischen Kriterien gewachsen sind.
 
Unsere Trauerweide hat sich unterirdisch zu einer Kanalisationsleitung vorgewagt, die von der Alten Trotte zum Rebweg verläuft, diesen unterquert, und sich dann mit der Hauptleitung im Bereich der Unternbergstrasse vereinigt. Die verknäuelten Baumwurzeln, die ich den Herzwurzeln zuordnen würde und welche die gleiche ockerfarben-gelbliche Struktur wie die Zweige aufweisen, haben die Betonleitung aufgebrochen und in deren Innern Wasser und Nährstoffe gefunden, aus denen sich gut leben lässt. Die Wurzel hat sich in der Leitung drinnen zu einem Knäuel aufgebauscht, den Durchfluss weitgehend unterbunden, und weiter vorne beim Rebweg, beim Haus von Dieter Wasser, einen Schacht zum Überlaufen gebracht – schon zum 2. Mal. Vom Wasser-Haus wird das Abwasser mit schwachem Gefälle der verstopften Wasserleitung zugeleitet.
 
Vor 5 Jahren, am 17.12.2005, war das Malheur erstmals passiert, und jetzt hat es sich wiederholt. Ein Kanalisationsfachmann von der Lüpold AG in Möriken AG, Stefan Käser, grübelte zähe Wurzelfetzen heraus – es dürfte nicht das letzte Mal gewesen sein.
 
Bäume sind eine Freude, wohltätige Sauerstoff-, Schatten- und Früchtespender, Lebensräume. Doch auf der unterirdischen Nahrungssuche kennen sie keine Grenzen, dringen hemmungslos in Mauern, Versorgungsleitungen, Gesteinsschichten vor; Hindernisse kennen sie im Prinzip nicht. Wurzelsperren werden überwunden. Als Faustregel gilt, dass sich die Wurzeln entsprechend des Kronendurchmessers ausbreiten ... plus 1 bis 2 Meter. Schon kleine Pflanzen entwickeln eine enorme Sprengkraft und werden mit versiegelten Böden fertig. Selbstredend spendet das auch Zuversicht: Nachdem sich der Mensch auf dieser Erde selber ausgerottet haben wird (die Vorbereitungen dazu sind im Gange), wird es für die Natur ein Leichtes sein, verlassene menschliche Bauwerke für ihre eigenen Zwecke zu reaktivieren – man kennt das aus der Archäologie.
 
Bevor jemand also einen exotischen Baum aus dem Gartencenter pflanzt, sollte er sich die Mühe nehmen, sich mit den Eigenschaften der ins Auge gefassten Art vertraut zu machen und nicht einfach auf einen Aktionspreis hereinfallen. Bäume brauchen Platz und sind wertvoll. Man darf ihren Ruf nicht schädigen, indem man den falschen Baum am falschen Ort pflanzt und sich ihn zum Feind macht. Auf unserem eigenen Grundstück haben sich die meisten Bäume von selbst eingefunden. Die Auswahl an Zuwanderern ist gross. Ihr Bestreben ist es, einen Wald zu bilden, weshalb ich halt gelegentlich zur Säge greifen muss. Was immer mit einer gewissen Tristesse verbunden ist.
 
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