Textatelier
BLOG vom: 21.09.2010

Wie „mündige“ Konsumenten fröhlich manipuliert werden

Autor: Ernst Bohren, Teufenthal AG/CH
 
Zurzeit leben in der Schweiz 8 Millionen Menschen; davon sind rund 6 Millionen Erwachsene ab 19 Jahren – Frauen, Männer, stimmberechtigte Bürger und Ausländer. Menschen, die aufgrund ihrer Wahrnehmung und Lernvergangenheit sowie (hoffentlich) nach reiflicher Überlegung Entscheidungen treffen über die alltäglichen Dinge des Lebens – vom täglichen Einkauf bis hin zu den komplexeren Sachfragen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik unseres Landes.
 
Von diesen 6 Millionen Erwachsenen haben aber nach neusten Erhebungen rund 800 000 Personen „erhebliche Mühe mit lesen und schreiben“. Das heisst, sie sind kaum in der Lage, den Sinn eines einfachen Texts überhaupt zu erfassen (vom Schreiben eines Briefs wollen wir gar nicht erst reden). Hinzu kommt die grosse Zahl der „Reading Poor“, das sind all jene Erwachsenen, die zwar lesen und schreiben könnten, sich aber lieber von den Medien mit „Kurzfutter“ und Werbung, Schlagworten und Bildern abspeisen lassen als jemals dem von den Buchhändlern erhofften „Trend zum Zweitbuch“ zu folgen. Schätzungen über deren prozentualen Anteil an der erwachsenen Bevölkerung bewegen sich zwischen 20 bis 25 Prozent. Das wären dann, zusammen mit den 800 000 Halb-Analphabeten, weit über 2 Millionen „Entscheidungsträger“ im öffentlichen und privaten Leben, die nur mit Bildern und Slogans ansprechbar sind. Aber auch der Grossteil all jener, die sehr wohl lesen und schreiben können, denken und entscheiden beileibe nicht immer rational. Auch sie lassen sich von Bildern und Schlagworten beeindrucken und sind in vielen Belangen durch den Bauch ansprechbar.
 
Solche Zahlen und Zustände erfreuen natürlich die Werbewirtschaft und alle Meinungsmanipulatoren in unserem Land; sie ermuntern zu weiterem frohem Schaffen. Mit Elan stürzen sich diese in die nicht immer einfache Aufgabe, die „mündigen“ Konsumenten zielgruppengerecht anzusprechen. Latente Ängste und geheime Wünsche werden nutzbar gemacht für die Propagierung ihrer Angebote und Ideen; echte Lösungen werden selten angeboten, dafür aber Träume skizziert und Bedürfnisse geweckt. Ein aktuelles Beispiel aus einer als Publireportage aufgemachten Produktewerbung:
 
„Essen Sie täglich genügend Lachs, um Ihren Bedarf an Omega-3-Fettsäuren zu decken?“ fragt die A4-seitig abgebildete junge Frau, die einen mindestens 2 Kilo schweren Lachsbrocken schultert.
 
Die Erklärung wird sogleich, etwas kleiner gedruckt, nachgeliefert: 47 g Lachs müssten Sie täglich essen, um die empfohlene Tagesdosis von 1,7 g Omega-3-Fettsäuren zu sich zu nehmen.
 
Im letzten Abschnitt dann die Lösung: „Actilife ist in der Migros erhältlich und bietet Varianten wie Saft, Margarine, Pflanzenöl (Raps-Olivenöl-Mischung) und vieles mehr, um ihren Körper mit ausreichend Omega-3-Fettsäuren zu versorgen.“ Da werden jetzt aber all jene Konsumenten aufatmen, denen Lachs schon immer ein Gräuel war; denn jetzt müssen sie nur noch auf die propagierte Actilife-Ernährungslinie umsatteln, und alles ist paletti.
 
„Gebt mir ein paar Millionen und ich mache aus jedem Kartoffelsack einen Bundesrat“, soll einst vor Jahrzehnten der Star-Manipulator und Inhaber einer grossen Zürcher PR- und Werbeagentur im Übermut gespottet haben. Die Schweizer Werbewirtschaft wiegelte aber bald darauf ab. In ihrer Schrift „Was ist Werbung?“ verkündete sie unter anderem: „Werbung macht also Menschen auf Dinge aufmerksam, die sie sonst vielleicht nicht kennen – und weckt darüber hinaus auch Bedürfnisse, die latent vorhanden sind. Wenn aber für ein Produkt oder eine Dienstleistung kein Bedürfnis vorhanden ist, kann man diese Bedürfnisse mit keinen Werbemillionen und keiner noch so ausgetüftelten Werbekampagne ansprechen“.
 
Ach ja? Wetten, dass man könnte, wenn man wollte und dürfte. Während inzwischen die Konsumenten und das Stimmvolk nicht kritischer geworden sind, haben die Meinungs- und Stimmungsmacher ihre Technik verfeinert. Dabei berücksichtigen sie nach wie vor jene Zielvorstellungen und Wünsche, die uns antreiben und unser Leben bestimmen, als da sind: „Komfort“, „Sicherheit“, „Neuheit“, „Prestige“, „Geld und Profit“. Sie wissen ganz genau, welche Tasten sie drücken müssen, um das Ziel zu erreichen.
 
Neuerdings hat sich der Wunsch nach „Freiheit“, „Unabhängigkeit“, „Souveränität“ (was immer das für den Einzelnen bedeuten mag) an die Spitze der erstrebenswerten Lebensziele gearbeitet, dementsprechend wird dieses Verlangen vor allem in der politischen Argumentation in den Mittelpunkt gestellt. Im Weiteren werden die Lebensziele „Besitzstanderhaltung“ und nicht zuletzt „Prestige“ voll eingesetzt und zu Kaufanreizen umfunktioniert.
 
Jahrzehntelang wurde der Traum von der unbegrenzten Freiheit von der Zigarettenmarke Marlboro mit wunderschönen Wildwestbildern bis zum Gehtnichtmehr strapaziert und ausgeschlachtet. Doch jetzt, wo uns auf jeder Zigarettenpackung unübersehbar die  abschreckenden Warnungen vor dem Rauchen ins Auge springen, wären wahrscheinlich die Bilder von der grenzenlosen Freiheit des Rauchens völlig daneben. Dies umso mehr als die klügere Hälfte der Konsumenten wohl endlich eingesehen hat, dass in unserer Konsumwelt die Wahlfreiheit im Grunde genommen recht eingeschränkt ist. Was uns bleibt, ist die Wahl zwischen Coca- und Pepsi Cola, zwischen Coop und Migros, zwischen billig und edel.
 
Das Edle und Wertvolle hat stark mit unserem Streben nach Prestige zu tun und wird immer dann aktuell, wenn es uns nicht allzu dreckig geht. Gerade darum ist zurzeit die Aufwertung des Selbstwertgefühls der Konsumenten bei den Werbern stark in Mode gekommen. Ganz nach dem Motto „Wenn du ein wertvoller Mensch sein willst, musst Du unser Produkt kaufen, anwenden, essen oder sonst was mit ihm anstellen“. Darum lässt denn auch ein Kosmetikkonzern seine Leitfigur am Schluss des Werbespots mit ausdrucksvollem Augenaufschlag verkünden „Weil ich es mir wert bin“.
 
Die Aufwertung des guten, wertvollen Konsumenten gilt übrigens auch bei der Wahl für das beste umweltfreundlichste Produkt – vom Hybridauto bis hin zum Bioprodukt aus der Molkerei oder dem Gemüseregal. Hier geht die Werbung noch einen Schritt weiter. Zum Beispiel mit kitschigen Motiven, wie sie im ganz normalen Produktionsalltag niemals vorkommen. Oder haben Sie jemals in der Bio-Werbung eine hornlose Kuh gesehen?
 
Wer liest und versteht schon die vor den Abstimmungen mit dem Stimmcouvert verschickten Wegleitungen? Viel lieber als sich mit den Argumenten der Befürworter und Gegner auseinander zu setzen, orientiert sich auch ein Grossteil der nichtbildungsfernen Wähler an Parteiparolen und Schlagworten. Und vor allem an plakativen Bildern, zum Beispiel mit weissen und schwarzen Schafen oder drohend als Raketen aufgestellten Minaretten. Zum Thema Besitzstanderhaltung dagegen eignet sich immer wieder das offene Portemonnaie, woraus sich gierige Hände schamlos bedienen. Gerade in der Politwerbung werden latente Existenzängste geschürt und bewirtschaftet.
 
„Der Konsument und Staatsbürger ist mündig“, dies versichern uns unentwegt die Werber und Politiker, um gleich danach das mündig gesprochene Stimm- und Wahlvieh auf der emotionalen Bauchseite wieder einzufangen. Auch wenn die Bundesratswahlen durch die vereinigte Bundesversammlung zuweilen eher einer Posse zwischen „Schwarz-Peter“ und „Verdecktem Differenzler“ (einer schweizerischen Jassvariante) gleichen, mag ich mich nicht so recht für eine Volkswahl erwärmen. Das wäre wieder einmal ein gefundenes Fressen für unsere Werbestrategen, denn dann ginge es in der Hauptsache darum, den bekanntesten und populärsten Kandidaten mit allen Techniken der Volksverführung auszuloben und auf den Schild zu heben. Die Gouverneurs- und Präsidentenwahlen in den USA lassen grüssen. Oder wollen Sie wirklich Sven Epinay oder Roger Federer zum Bundesrat machen?
 
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