Textatelier
BLOG vom: 11.09.2010

Chancen des Alters: Der Wert frisch gebliebener Antiquitäten

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Wer einen Pensionsschock erlebt, das Alter als „Problem“ empfindet, dem ist nicht zu helfen. Er ist falsch programmiert, steht quer in der Landschaft, in der sich das Leben abspielt. Denn das Alter ist die Sensation, der Höhe- und Erntezeitpunkt.
 
Nach der Phase des Aufwachsens, der Ausbildung, der Berufsausübung und der Sorge für seine Familie (ich rede von ehemaligen Zuständen) und des Sammelns von Lebenserfahrung bricht plötzlich die grösste aller denkbaren Freiheiten aus: Man wird unabhängig, kann sich sein Leben innerhalb eines erweiterten Freiraums im Anschluss ans Berufsleben gestalten, das sich fast immer innerhalb von Organisationen abspielte. Die Herauslösung aus dem vielleicht inspirierenden, wohl aber eher beengenden beruflichen Team, aus den Zwängen des wirtschaftlichen Kommerzes mit all den damit verbundenen Rücksichtsnahmen, Fesseln und der Einfalt des Kollektivs lässt die Individualität erstarken. Existenzsorgen wirtschaftlicher Natur sind selten; den meisten alten Menschen geht es in der Schweiz gut, wozu die ausgebauten Sozialversicherungswerke beitragen.
 
Zum verbreiteten negativen Image des Alters trägt der Umstand bei, dass es mit Krankheit gleichgesetzt wird. Die landläufige Gleichung lautet: Je älter desto kränker. Jedermann wird darauf trainiert: Die heutige, durch und durch kommerzialisierte Lebensweise hat es mit sich gebracht, dass jede Altersphase in eine vermarktbare Krankheit umfunktioniert wird; denn das Krankheitswesen (euphemistisch: Gesundheitswesen) ist an kranken, nicht an gesunden Menschen interessiert. Infolgedessen wurde die Schwangerschaft in eine intensiv behandlungsbedürftige Erkrankung umfunktioniert, die einer Dauer-Überwachung bedarf; während der üblichen 9 Monaten ist diese Krankheit chronisch. Die auch zeitlich fix geplante Geburt wird zur chirurgischen Operation. Das Säuglings- und Kindesalter kann angeblich nur noch von mehrfach Durchgeimpften überstanden werden; die Impfschäden wie ein ruiniertes Immunsystem müssen als Kollateralschaden halt in Kauf genommen werden. Die Pubertät ihrerseits ruft oft nach einer psychiatrischen Behandlung, und falls das Pubertieren überwunden werden kann – vielen Erwachsenen gefällt das Dauerpubertieren nach dem 68er-Vorbild –, stellt sich im Anschluss daran gleich die Midlife-Crisis ein. Sie wurde 1974 von der amerikanischen Autorin Gail Sheehy erfunden und in ihrem Buch „In der Mitte des Lebens“ beschrieben, auf dass jedermann weiss, welche Symptome er zu entwickeln hat. Anschliessend wird es höchste Zeit für die Krankheiten, die zur vorzeitigen Pensionierung führen, und schliesslich eben zur chronischen Krankheit des Alters mit der garantierten Endstation Tod ...
 
Gewiss, angeborene Schwächen, Krankheits- und Unfallfolgen, medizinische Fehlbehandlungen sowie die Folgen von Lebensfehlern, ob selbst- oder fremdverschuldet, treten im Alter deutlicher hervor, denn die Körperfunktionen erfolgen nicht mehr mit der gleichen Vitalität wie früher. Rücksichtnahmen sind nötig, Regenerationsphasen werden länger. Das sind normale Vorgänge, und darauf hat man sich einzustellen, ohne darunter zu leiden. Man braucht sich ja auch nicht in Depressionen zu stürzen, nur weil im Winter die Tage kürzer als im Sommer sind. Anregungen für die Bewegung von Geist und Körper gibt es genug, um den Alterungsvorgang zu verlangsamen. Medialen Verblödungsprogrammen und -publikationen kann und muss man sich entziehen.
 
Mit all den während der Lebensjahrzehnte gesammelten Erfahrungen sollten die Bedürfnisse des eigenen Körpers und wohl auch seines Gefühlszustands allmählich bekannt sein und beherrscht werden können. Wer einen Mangel an Gesundheitswissen hat, findet genügend Literatur, um sich weiterzubilden. Wenn aber die letzten Attraktionen des Lebens im Alter nur noch aus Arztbesuchen und Spitalaufenthalten sowie aus ausgeschmückten Erzählungen über „meine Ärzte“ bestehen, wird das Alter zur Qual (auch für die Zuhörer). Die Patientenrolle kann ja wohl kaum ein erstrebenswerter Zustand sein.
 
Zu den Chancen des Alters gehört das Nachholen von Liebhabereien, die bis anhin aus Zeitmangels ein Schattendasein fristen mussten. Es gibt Alte, die plötzlich an der Schauspielerei Gefallen finden, die sich einem Gesangs- oder Musikverein anschliessen, die Kurse über die Politik, die Geschichte, die Biologe, die Astronomie usf. belegen, die sich zu Theatergängern entwickeln und sich mit der Entstehung von Stücken und dem Wesen der Interpreten befassen; die dafür nötige Zeit steht ihnen jetzt zur Verfügung. Viele ordnen ihr Lebenswerk, durchlaufen die Vergangenheit bei veränderter Position, holen Verpasstes nach.
 
Wer den richtigen Beruf hatte und seine Fähigkeiten zum Beispiel als Handwerker oder auf einem anderen Gebiet des Kunstschaffens zur Geltung bringen konnte, wird solche Tätigkeiten, vielleicht in etwas abgewandelter Form, auch nach der Pensionierung weiterführen, auch um seine stets verfeinerten Fähigkeiten nicht verkümmern zu lassen.
 
Aus der Freiheit des Alters heraus lässt sich unbeschwerter agieren. Wer etwas zu sagen hat und die Pluralität im Denken beleben möchte, kann es jetzt endlich tun. Nötige politische Äusserungen und Klarstellungen müssen nicht mehr auf die Goldwaage gelegt werden. In diesem Sinne sollten sich die Alten einbringen statt sich zurückziehen, das Grufti-Image überwinden, zu Betreuern statt zu Betreuungsbedürftigen werden.
 
Antiquitäten, die ihren Zweck hervorragend erfüllen, haben einen unschätzbaren Wert.
 
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