Textatelier
BLOG vom: 23.10.2009

Gedanken beim Laubwischen: Freude an den bunten Blättern

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Blüten können Schein sein. Laub kann Maske sein; aber ein entleerter Baum will nicht mehr scheinen, keine Maske tragen. Kahlheit, Leere und Schmucklosigkeit sind die Voraussetzungen der wahren Erkenntnisse dieses Baumes aller Bäume. Die Wintergestalt ist die wahre Gestalt. Weder vor dem endgültigen noch vor dem zeitweiligen Tod gibt es irgendwelche Ziererei."
Hermann Hiltbrunner
*
Manchmal bläst der Wind das auf den Boden gefallene Laub weg, deponiert es an irgendeinem anderen Ort. Doch der Natur käme es in ihren kühnsten Herbstträumen nicht in den Sinn, Laub zusammenzukehren und wenn möglich noch wie abgefallener Abfall zu behandeln. Sie lässt es liegen, wartet geduldig, bis es zu neuer Erde umwandelt ist. Das Kompostieren passiert einfach, braucht keine Anleitung.
 
Als ich Mitte Oktober 2009 unseren Hauseingangsbereich mit einem Rutenbesen vom Falllaub befreite und dieses in einem grossen Zuber zum Komposthaufen trug, kam ich mir etwas gestört vor. Das Laub mit seinen Grün-, Rot-, Braun- und Gelbtönen lag wie ein naturfarbener Teppich auf der Pflästerung und beleidigte kein Auge, im Gegenteil. Es machte beim einsetzenden Regen die Treppen aber etwas glitschig, und die einzelnen Stufen waren für Ortsunkundige nicht mehr genau erkennbar. Also musste es weg. Obschon aus Natursteinen (Porphyr) gefügt – der Boden ist künstlich angelegt, und wenn immer wir Menschen etwas nach unserem Gusto regulieren, bedarf es einer Nachbetreuung. Die korrigierten und kanalisierten Gewässer, die zum Teil höher als das umgebende Terrain sind, müssen ständig unterhalten werden. Alle Bauwerke brauchen einen Unterhalt. Sogar Waldstrassen. In einem Zeitungsbericht über Gemeinderatsverhandlungen habe ich einst gelesen: „Erstmals soll versucht werden, die Waldstrassen mittels einem Gebläse vom herabgefallenen Laub zu befreien. Der nicht unbedeutenden Humusbildung durch die Blätter wird dadurch Einhalt geboten“ (Mellikon AG, 02.1983).
 
Kleinkunstwerke in Fülle
In der freien Natur unterhält und pflegt sich der Baum selber. Seine Schönheit ist in jeder Phase des unendlichen Wandels unübertrefflich, und jedes Blatt ist ein Kunstwerk, würde es verdienen, in einem Museum für Naturkunst ausgestellt und bestaunt zu werden. Als ich den Reisigbesen schwang, stoppten mich einzelne Blätter mit besonders gelungenen Farbkombinationen zwischen ihren Rippen und den netzartig verbundenen Leitbündeln immer wieder in diesem Tun, verlockten zum genauen Hinsehen. Zum Teil bemühten sie sich um die 3. Dimension, indem sie die Blattränder und die Spreitenspitze umbogen, als ob sie sich etwas einrollen wollten, um der zunehmenden Kälte besser trotzen zu können.
 
Von betörender, gelb-oranger Leuchtkraft sind die fünflappigen Blätter meines inzwischen wohl 8 m hohen Zuckerahornbaums (Acer saccharum), den ich als kleines Pflänzchen vor 20 Jahren in einer Plastikflasche aus Nordamerika heimgebracht habe. Das Laub vollführt ein Feuerwerk der sympathischen Art – im Norden der USA und in Kanada prägt es den so genannten Indian Summer, der unserem Goldenen Oktober entspricht.
 
Bei einem Zuckerahornblatt waren die strahlig verlaufenden 5 Blattachsen von einem fraktalkünstlerisch verlaufenden, frischen Hellgrün begleitet, das in die zitronengelbe Blattfläche hineingewachsen war. Auf der Rückseite wiederholte sich das Aquarell, allerdings mit wesentlich gedämpfter Leuchtkraft. Daneben lag ein Blatt mit einem dunkeln, kräftigen Purpur- oder Weinrot, das von dem Sonnenschutzmittel Anthocyan herrührte und mit schwarzen Flächen den Eindruck machte, es sei schmutzig. Ein schwachgelbes Zuckerahornblatt war mit unregelmässigen dunkelbraun-roten Flächen verziert, die sich gegen die Spreitenspitze vergrösserten. Und bei einem besonders grossen Blatt war jeder Lappen unterschiedlich bemalt; nur die Rippen waren einheitlich rot umrandet.
 
Etwas weniger Phantasie entwickeln meine beiden Nussbäume (Juglans regia), deren wechselständige, gefiedert angeordnete Blätter meist gleich vom satten Grün in ein eingesprenkeltes, dunkles Braun hinüber wechseln, wobei die Mittelrippe ihre gelbgrünliche Farbe noch lange behält. Die Braunfärbung der absterbenden Blätter entsteht u. a. durch Gerbstoffe und Hydrochinone. Bei genauem Hinsehen zeigen sich innerhalb des Brauns verschiedene Schattierungen wie beim Naturleder, und zudem sind die Blätter mit grauen Flecken versehen, die wahrscheinlich von Regentropfen darauf gezeichnet wurden.
 
Fleckig sind auch die ovalen bis verkehrt eiförmigen Blätter der Kirschbäume (Prunus avivum) – hier sind viele grüne und manchmal kaffeebraune Flecken und dem eigelben Blattgrund zu erkennen. Auf Birnbaumblättern (Pyrus communis) kann der Gitterrost-Pilz (Gymnosporangium sabinae) zu orangen bis roten Flecken führen; als Zwischenwirt dient der Wacholder (Juniperus spp.).
 
Ein Baum, der uns praktisch während des ganzen Jahres mit seinem Laubfall erfreut, ist die Trauerweide (Salix babylonica). Besonders ordnungsliebende Menschen mögen das als ein trauriges Dauerspektakel erleben. Von einem Nachbargrundstück hängen die rutenförmigen Zweige, die selbst bei schwachen Lüftchen abbrechen, auf meinen Hausvorplatz herüber. So fallen die lanzettlichen, kurz gestielten Laubblätter oft gleich zusammen mit ihrer Halterung ab. Sie wechseln zu einem beliebig gewählten Zeitpunkt vom Grün über Gelb bis zu einem hellen Braun. Doch selbst auf der kleinen Fläche entwickeln sie alle herbstlichen Farbnuancen und Sprenkelungen.
 
Abschied von Chlorophyll
Der Vorgang der Blattverfärbung und des damit verbundenen Laubwurfs ist ein Wunder der Anpassungsfähigkeit. Es beginnt damit, dass das grüne Chlorophyll, das möglichst viel Licht einfangen soll (Photosynthese), seine Funktion verliert, wenn das Tageslicht rar und rarer wird. Also kann der Baum die für ihn wichtigen Substanzen aus dem Blattgrün ins Holz zurückziehen. Indem das Blatt ausser Betrieb gesetzt wird, kann eine unnötige Wasserverdunstung verhindert werden; Winter sind oft trocken. Und bei Frost würden die Vakuolen (Zellsafträume) ohnehin platzen. Bei der Auflösung des Chlorophylls kommen die darunter liegenden gelb-orangen Karotinoide und deren Oxidationsprodukte, die Xanthophylle (Oxidationsprodukte der Karotinoide), zum Vorschein, die schon immer vorhanden waren. Sie werden anschliessend (oder auch gleichzeitig, wie z. B. beim Ginkgo-Baum) ihrerseits abgebaut. Das stufenweise Abbauvorgehen lässt sich beim Essigbaum (Rhus typhina) besonders schön beobachten. Das optische Resultat zeigt, dass der Vorgang in jedem Blatt etwas unterschiedlich abläuft. Und zudem haben ältere Pflanzen eine intensivere Herbstfärbung als junge – auch bei älteren Menschen verfärbt sich die Haut ja gelegentlich etwas.
 
Zwischen Blattansatz und Zweig bildet sich zur Vorbereitung und Erleichterung des Blattabwurfs eine dünne Korkschicht. Sie unterbindet die Verbindungskanäle, was auch vor Parasiten und Krankheitserregern schützt. Doch Buchen und Eichen halten ihre verfärbten Blätter zur Sicherheit gern bis zum neuen Austrieb fest; vielleicht stufen sie das Schützen junger Knospen als bedeutsamer ein.
 
Die immergrünen Buchsbäume, Eiben und Zypressen wurden von den Menschen ins Reich der Toten verwiesen und bestimmen massgebend das Bild entsprechender Stätten wie Friedhöfe wesentlich mit, obschon gerade diese Pflanzen von Leben, aber nicht von jahreszeitlichem Wandel, erfüllt sind.
 
So hat jeder Baum und jedes Blatt seine eigene Biografie; sie alle erleben den Herbst auf ihre Weise. Und wenn ich meinen Kompostwalm mit dem zusammengekehrten Falllaub abdecke, ist das der Auftakt zu einer neuen Geschichte. Umformung, fortwährende Transformation.
 
Mit solchen Gedanken beendete ich Lauben. Und noch bevor ich den Besen im Schopf versorgt hatte, haben sich neue bunte Blätter auf den Boden gelegt. Vorerst bleiben sie dort – zu meiner Erbauung. Später wird der Humusbildung am (aus meiner Sicht) falschen Ort wiederum Einhalt geboten werden müssen ...
 
Hinweis auf ein weiteres Blog zu gefärbten Bäumen
19.06.2009: Gipf-Oberfrick AG: Wo Kirschen die Landschaft rot einfärben
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst