Textatelier
BLOG vom: 25.11.2008

Warum mir die somalischen Piraten eher sympathisch sind

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Man gestatte mir, eine gewisse Sympathie den Piraten von Somalia gegenüber zu bekunden und zu begründen. Ausschlaggebend war, als ich heute las, Russland und die USA seien sich einig, die Piraten am Horn von Afrika nicht nur zu Wasser, sondern auch an Land zu bekämpfen, trieb mich das an die Tastatur, um auch einmal die andere Seite darzustellen.
 
Die europäische Fischereiindustrie hat sich jahrelang unter anderem über den Indischen Ozean vor der Küste Somalias hergemacht, allen voran Thunfischer aus Frankreich und Spanien. Die somalischen Regionalherrscher (Sprachregelung: Warlords) wurden von Europäern und Asiaten bestochen und veräusserten Fischereirechte an Europäer, Russen und Asiaten. Als dann deren hochgerüstete Fischfangflotten mit dem Leerfischen der somalischen Küstenregion begannen, wehrten sich die somalischen Fischer, auch ausserhalb der somalischen Territorialgewässer, weil sie ihre Lebensgrundlage (und die des Landes) bedroht sahen.
 
Die Raubfischerei der Reichen
Der kenianische Experte Andrew Mwangura der in den Vereinigten Arabischen Emiraten erscheinenden Zeitung „The National“, dessen Seafarers Assistance Programme in 90 % aller Kaperungen zwischen somalischen Piraten und Reedern vermittelt, nannte die Wurzel der Piraterie: illegales Fischen.
 
Diese Haltung wird von einem Bericht der UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO vollumfänglich bestätigt. Denn in den Jahren nach 1991 drangen bis zu 700 ausländische Fischereiboote auf der Jagd nach Thunfisch, Hai und Garnelen (Shrimps) bis dicht an die somalische Küste vor. Rücksicht auf die einheimischen Fischer nahmen sie nicht. Im Gegenteil: Laut einem Bericht der Londoner Umwelt- und Menschenrechtsorganisation Environmental Justice Foundation rammten die Invasoren die Boote einheimischer Fischer, beschossen deren Insassen mit Wasserkanonen, kappten ihre Netze und nahmen dabei selbst den Verlust von Menschenleben in Kauf.
 
Etliche dieser Fischräuber fahren laut FAO unter fremden Billigflaggen wie etwa von Panama, Belize oder Honduras, weil keiner dieser Staaten die Einhaltung internationaler Abkommen zu Fangbegrenzungen oder dem Artenschutz überwacht. Nach einer von der australischen Regierung finanzierten und der Umweltschutzorganisation WWF erstellten Studie besitzen spanische Eigner die weltweit viertgrösste Flotte von Schiffen unter Billigflaggen und stehen unter dem Verdacht der Fisch-Piraterie. Scheue Anfrage: Warum eigentlich unternehmen die edlen Weltpolizisten denn nichts dagegen? Und warum entrüsteten sich unsere Medien nicht?
 
Die Fischer zu Piraten gemacht
Unter solchen Voraussetzungen wurden denn aus den Fischern eben Piraten, eine terroristische Ausprägung zu Wasser. Sie starten meistens von der halbautonomen Region Puntland aus.
 
Es wäre ein Gebot des Anstands, in jedem Fall die Ursachen von Terrorismus zu hinterfragen, um so zu differenzierteren Beurteilungen zu gelangen. Und ich gebe zu, dass ich als ehrlicher somalischer Fischer angesichts der Raubzüge der reichen Industrienationen ebenfalls die Piraten-Karriere gewählt hätte. Denn auch ich würde grob, wenn man mich bestehlen und bedrohen würde.
 
Die Piraterie erwies sich als ein lukratives Geschäft mit Wachstumspotenzial, ein einträglicheres jedenfalls als das Fischen im überfischten Meer. Von den 55 Fischernteschiffen aus der EU, die mit Genehmigung im somalischen Teil des Indischen Ozeans ihre moderne Fangtechnik zum Einsatz brachten, sind bereits etwa 40 von Piraten angegriffen worden. Im laufenden Jahr 2008 soll es 92 Piratenangriffe gegeben haben; auch Getreideschiffe, Luxusjachten oder Stückgutfrachter werden nicht mehr verschmäht. Denn inzwischen haben die Piraten, die wahrscheinlich wieder von Clanführern eingesetzt werden, diversifiziert.
 
Sie fangen jetzt auch grosse Fische wie den 330 m langen saudiarabischen Supertanker „Sirius Star“ mit seinen 300 Millionen Litern Rohöl ab, den sie gegen 25 Mio. USD freigeben wollen. Weil es sich um ein Schiff aus der arabischen Welt handelt, lehnt sich die islamische Gruppe al-Shabaab (Jugend) gegen die Piraten auf, ein Hinweis auf die Zersplitterung im Islam, die sich anderseits auch mit Waffen, die von den Piraten beschafft werden, aufgerüstet werden soll, eine undurchsichtige Sache.
 
Für die Verpflegung ihrer Geiseln organisieren die Piraten Catering-Unternehmen. Sie haben Geld genug, das Geschäft blüht, und für viele Menschen ist das Freibeutertum die einzige Zukunftshoffnung. Doch wahrscheinlich kommt der Erlös wieder in falsche Hände, etwa für Waffen für die Ausweitung der Bürgerkriege. Das vermeldete sinngemäss die britische Fachzeitschrift „Jane's Terrorism and Security Monitor“.
 
Das destabilisierte Umfeld ist ein gutes Terrain für die Piraterie. Somalia ist kein funktionierender Staat; eine Rechtsordnung gibt es nicht. Laut Unicef sollen mehr als 350 000 Zivilisten aus Mogadischu (Mogadiscio) auf der Flucht sein. In dem von Bürgerkriegen geplagten Land, dem von der westlichen Wertegemeinschaft und auch von internationalen Schwarzfischern die Fische weggefressen worden sind, herrscht Hunger, bitteres Elend.
 
Kolonisationsgeschichte in Kürze
Wie konnte es zu solch desolaten Zuständen in Somalia kommen? Am Anfang war natürlich die Kolonisierung, bei der das Gebiet Ende des 19. Jahrhunderts, also verhältnismässig spät, zwischen England (Kenia und Somaliland im Norden), Frankreich (Djibuti, das im Süden von Somalis und im Norden von Afar besiedelt ist), Italien (das Kernstück) und Äthiopiens Kaiser Menelik II., der sich nach einem Sieg über Italien in Adowa den Ogaden sichern konnte, aufgeteilt wurden. Das Protektorat British-Somaliland beispielsweise wurde im Juli 1887 gegründet. Das Land war in mehrere Teile aufgespalten.
 
Nach dem Bau des Suezkanals war das Horn von Afrika ins Zentrum europäischer Begehrlichkeiten gerückt, auch aus strategischen Gründen. In den 1950er-Jahren führten internationale machtpolitische Verwicklungen zu neuen Umverteilungen von Land, bis es den Menschen allmählich zu bunt wurde und sie um Unabhängigkeit zu kämpfen begannen. 1960 wurden das italienische und das britische Kolonialgebiet unabhängig, der südliche Teil ging an Kenia. Die Clans innerhalb eines recht homogenen Volks waren allerdings zerstritten; das Chaos mit den künstlichen Grenzen wirkte nach. 1969 putschte die Armee, angeführt von Generalmajor Mohammed Siyad Barre ohne Blutvergiessen. Er verbot alle politischen Parteien und kollaborierte mit der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UdSSR. Er konnte sich bis 1991 an der Macht halten. Er wurde von Rebellen gestürzt, und Barre floh nach Lagos (Nigeria), wo er 1995 starb. Und dann blühten die Clans und Kriegsherren wieder auf.
 
Die Kriegsnation USA fiel auf die Nase
Nach Barres Sturz orteten die USA wieder eine Gelegenheit zur Machtausweitung. Sie boten der von ihr beherrschten UNO an, eine multinationale Truppe, unter eigener Führung, versteht sich, zu entsenden, genannt Unified Task Force UNITAF oder Operation Restore Hope; die Amerikaner haben grandioses Talent entwickelt, ihre Kriegseinsätze verbal mit lieblichen, Zuversicht verbreitetenden Namen zu vertuschen. Die UNO fiel darauf herein. Die US-Krieger waren ermächtigt, alle nötigen Mittel, einschliesslich militärischer, einzusetzen. Am 09.12.1992 begann der grosse Einmarsch von 37 000 Soldaten von der somalischen Küste aus. Die deutsche Bundeswehr schloss sich an und absolvierte ihren 1. Militäreinsatz ausserhalb des Nato-Gebiets, unverständlich.
 
Die Somalier erkannten die wahren Motive der westlichen Krieger, die sich als Besatzungsmacht mit Militärbasen installieren und die Erdölvorräte kontrollieren wollten. Im Mai 1993 wurde von den USA versucht, den wichtigen Clanführer Mohammed Farah Aidid und weitere Anführer von Bürgerkriegstruppen zu einem Waffenstillstand zu bewegen, um selber freie Hand zu haben. Die Clanführer vergassen die Streitereien unter sich und schlossen sich gegen die Eindringlinge zusammen. Daraufhin bliesen die Amerikaner zur Jagd auf Aidid – und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt. Nach einer hirnlosen Bombardierung (wie sie sich später in Afghanistan und im Irak endlos wiederholt haben) und einer vermeintlichen Versammlung von Aidid-Anhängern durch die 10. Gebirgsjäger-Division, die rund 50 unschuldige Opfer forderte, überlief das Fass. Deshalb kam es am 03. und 04.10.1993 im Rahmen der „Operation Continue Hope“ zur Schlacht von Mogadischu, die sich als ein hoffnungsloser Fall erweisen sollte.
 
Die Amerikaner begingen operative Pfusche, erlitten von Anfang an Verluste; Kampfhelikopter wurden abgeschossen, und die aus der Luft fehlerhaft dirigierten Soldaten verirrten sich in der Stadt. Die Amerikaner waren nicht einmal zu Rettungsaktionen für ihr eigenes Personal fähig und verloren selbstverständlich auch diesen Krieg. 2 tote US-Soldaten wurden durch die Stadt geschleift. Insgesamt sollen etwa 18 Amerikaner, ein Malaysier und etwa 1000 Somalier getötet worden sein. Man weiss ja inzwischen (auch aus dem Irak und Afghanistan), dass ein toter US-Soldat um Grössenordnungen schwerer wiegt als irgendein Opfer aus einer Schurkennation. 1994 zogen die USA ihre Truppen ab.
 
Neuer Anlauf gegen Somalia
Bei den jetzigen Piraterie-Meldungen aus Somalia findet man solche Hinweise auf die Vorgeschichte und die rücksichtslose Raubfischerei durch die Wertegemeinschaft kaum. Wieder einmal schreien die kontrollierten Medien im Chor: „Nieder mit den Piraten!“ Und wiederum wird gegen Somalia und ihre verzweifelte Bevölkerung aufgerüstet. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow sagte nach einem Treffen mit der US-Kriegsgurgel Condoleezza Rice: Wir waren uns einig, dass grössere Anstrengungen unternommen werden müssen. Es ist notwendig, dass wir diesen Teufel nicht nur in offenen Gewässern bekämpfen, sondern wir müssen auch versuchen, in Zusammenarbeit mit der Regierung von Somalia Ordnung an den Küsten des Landes herzustellen."  Und auch in Deutschland blies Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zum Kampf. Er wünschte sich ein „robustes Mandat“, das ein wirkungsvolles Handeln ermöglicht, wohl in Anlehnung an die UNITAF-Geschichte. Damit könnte die Bundesmarine dann mit Waffengewalt gegen die Piraten vorgehen, sagte er zur sonntäglichen FAZ am 23.11.2008 mit unverhohlener Kriegslust. Und der berühmte deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), der gerade gegen die Schweizer Banken ankämpft, erkannte in Somalia eben einen weiteren Kriegsschauplatz, der beackert werden könnte: „Angesichts der immer grösseren Dreistigkeit der somalischen Piraten müssen wir dringend handeln. Wir brauchen endlich wieder sichere Seewege am Horn von Afrika.“ Und bereits wird Siegesstimmung verbreitet: So soll am 23.11.2008 eine Fregatte der deutschen Marine von der Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern" aus am Horn von Afrika eine Attacke bewaffneter Seeräuber in Schnellbooten abgewehrt haben; die Seeräuber seien geflohen, durfte die Öffentlichkeit erfahren. Damit wird zu weiteren Herkulestaten motiviert. Es ist also zu schaffen.
 
Auch afrikanische Interessen respektieren
Wollte man dieses Piratendebakel fair lösen, müsste auch die Raubfischerei durch die Mitglieder auf dem Kielwasser des Guten beendet und dafür gesorgt werden, dass die Somalier wieder eine Gelegenheit erhalten, sich anständig zu ernähren, aus ihrer Notlage herausfinden. Aber die westlichen Fischräuber werden bald wieder mit brutaler Gewalt über die gotteskriegerischen Seeräuber zu herrschen versuchen. Die Nato-, US- und EU-Kriegsschiffe sind bereit, bereits in Fahrt, Moral hin oder her. Die Nato hat vor der Küste Somalias bereits 4 Kriegsschiffe in Stellung gebracht. Selbstredend ist auch die 5. Flotte der US-Marine schon dort, ebenso Fregatten aus Russland, Indien, Malaysia und Dänemark.
 
Die vorangegangene Raubfischerei von der Achse des Guten aus verschweigen Politik und eingebettete Medien, von löblichen Ausnahmen wie der „Badischen Zeitung" abgesehen – bitte beachten Sie, wie Ihr Leibblatt darüber informiert. Wir reichen Europäer und Konsorten sind ja so froh, dass wir zu genügend günstigem Fisch kommen und drücken alle Augen zu. Unser Fischfang wird nach dem Piratenfang und -abschuss wieder möglich sein. Mit Anstand wollen wir nach wie vor nichts zu tun haben. Das schändliche Zeitalter der Kolonialisierung lebt wieder auf.
 
Ein Teilnehmer im Spiegel-online-Forum brachte die Sache auf den Punkt: „Erst klauen wir die Rohstoffe der Länder und dann flennen wir noch, dass sie sich wehren." So viel politische Reife findet man in der Politik leider nicht.
 
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