Textatelier
BLOG vom: 17.06.2008

EU: Die Iren irrten sich nicht und stoppten Machtkonzentration

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Irländer irrten sich nicht: Sie sagten am 12. Juni 2008 zum so genannten Lissabonner Vertrag, mit dem die Europäische Union EU zu einem supranationalen, technokratischen Gebilde mit mehr Rechten für das Europäische Parlament und den Europäischen Gerichtshof geworden wäre, mehrheitlich nein (53,4 %, ja: 46,6 %). Die Kern-EU mit Präsident und Aussenminister wäre ab 2009 in den Rang eines Bundesstaats aufgewertet, die Länder aber zu Teilstaaten mit noch weiter eingeschränkter Selbstbestimmung degradiert worden. 860 000 Iren retteten somit allfällige demokratische Restbestände für 495 Millionen Europäer. Sie verdienen ein Denkmal. Wäre die EU eine Demokratie beziehungsweise gäbe es dort nur Ansätze von demokratischer Mitbestimmung, müssten doch alle Länder über eine neue Verfassung abstimmen können. Man darf doch ein solches Riesengebilde nicht mit Hinterlist zentralistisch führen. Damit bringt man das Unbehagen in den Völkern zum Kochen; so werden Rebellionen geradezu gezüchtet.
 
Weil die Demokratie in den EU-Ländern bereits weitgehend abgeschafft werden konnte, waren die Iren die Einzigen, die sich zur neu aufgelegten EU-Verfassung überhaupt äussern durften – stellvertretend gewissermassen für alle Mitgliedsländer. Irland ist innerhalb der EU die letzte Demokratie, und das stört nun den Vereinheitlichungs-Gottesdienst enorm: Denn die neue Verfassung kann theoretisch nur in Kraft treten, wenn ihr alle Staaten zugestimmt haben. Dabei ist bemerkenswert, dass alle Regierungen das erneuerte Werk abgesegnet haben oder es abzusegnen bereit sind (inkl. die irländische) – aber wohl alle Völker würden dagegen ankämpfen, wenn sie sich verbindlich äussern könnten. Man mag daraus die tiefe Kluft zwischen Regierenden und Regierten erkennen.
 
Diese Kluft wäre nach Annahme der in Lissabon ausgehandelten EU-Verfassung noch vertieft worden. Denn die Regierungschefs hätten in einem noch ausgedehnten Masse selber bestimmen können, was für zusätzliche Zuständigkeiten sie sich zuschanzen wollen, bis hin zur verteidigungspolitischen Neutralität. Auch diese möchten die Iren nicht preisgeben; sie wollen nicht in irgendwelche Kriege geschickt werden, ohne sich gegen solche Aufgebote wehren zu können. Der Vertrag enthält also eine Art Ermächtigungsgesetz, ähnlich demjenigen, welches am 23. März 1933 in Deutschland beschlossen worden ist und mit dem im Prinzip die nationalsozialistische Diktatur etabliert worden ist.
 
Die EU-Gewaltigen, bei denen demokratische Regeln keine Rolle mehr spielen, akzeptieren diesen Volksentscheid, der eine noch weitergehende Machtzentralisation in Brüssel ermöglicht hätte, überhaupt nicht: Durchhalten und „Wir machen weiter!“ lauten die Devisen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum gestorbenen „Vertrag“: „Ich glaube, der Vertrag ist lebendig, und wir müssen eine Lösung finden.“ Die Regenten von Deutschland und Frankreich, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, drängten gemeinsam voran: „Wir erwarten, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren weiterführen.“
 
Man sucht jetzt, abseits der Einflussnahme der Völker, verzweifelt nach Lösungen, wie man das Verdikt aus Dublin und Umgebung doch noch aus der Welt schaffen könnte – etwa mit einem Ausschluss der widerspenstigen Iren aus der EU-Familie (gemäss Vorschlag des deutschen Aussenministers Frank-Walter Steinmeier), oder aber die Irland-Mitgliedschaft wird modifiziert, so dass es nicht mehr stört (und das kommt bei den Iren ausgesprochen schlecht an). Oder man lässt die Iren einfach so lange abstimmen, bis das Ergebnis passt. Denn es geht ja um die neue EU-Verfassung, die unbedingt nötig ist, um 27 Länder von Brüssel aus total beherrschen zu können. Nur gerade aus Tschechien kamen demokratische Töne: „Wir nehmen das irische Nein nicht weniger ernst als die früheren Absagen aus Frankreich und den Niederlanden“, sagte Ministerpräsident Mirek Topolanek. Vielleicht passt Tschechien mit dieser korrekten Haltung auch nicht ganz ins EU-Konzept.
 
Der erste Versuch, eine neue EU-Verfassung einzuführen, scheiterte glücklicherweise tatsächlich an den Referenden im Jahr 2005 in Frankreich und in den Niederlanden: Nein zum Brüsseler Zentralismus. Die gescheiterte Verfassung wurde nun verharmlosend als „Vertrag“ in nur wenig abgeänderter Version neu aufgelegt. Es war wieder einmal einer der bewährten faulen Tricks: Zu einer Verfassung müssten laut Völkerrecht alle Betroffenen befragt werden; sagt man der Verfassung aber Vertrag, so gelten solche Grundsätze nicht mehr. Man kann den Iren dafür nicht genug dankbar sein, dass sie solche Schlaumeiereien, die für die neoliberale Globalisierung typisch sind, unterbinden. Der US-Folter-Doktrin (Schläge, Schlafentzug, gezielte Unterkühlung usw.) werden zu „fortgeschrittenen Vernehmungstechniken“. An der Sprachkosmetik liegt alles.
 
Die „Welt online“ schrieb am 15.06.2008 treffend: „Europa kann nicht hinter dem Rücken der Bürger geschaffen werden. Das hätte nach dem Nein der Franzosen und Holländer zum EU-Verfassungsvertrag vor 3 Jahren klar sein müssen. Stattdessen übernahm Angela Merkel den Vorschlag Nicolas Sarkozys, das Wort ,Verfassung’ fallen zu lassen, die wichtigsten Bestimmungen aber unverändert als Vertrag von Lissabon von den nationalen Parlamenten absegnen zu lassen, möglichst ohne lästige Volksabstimmungen.“ Die alte Verfassung trat inhaltlich unverändert, aber in verschleierter Vertragsform, wieder auf.
 
Die Verschleierungstaktik wäre um ein Haar gelungen. Die Berichterstattung der eingebetteten Systemmedien, auch jenen der noch einigermassen EU-freien Schweiz, war miserabel, falls überhaupt berichtet wurde. Miserabel in Bezug auf die verzerrenden Darstellungen und miserabel wegen der ausdrücklichen Ausklammerung der Vertragsauswirkungen. Selbstverständlich wurde auch die staatsrechtliche Klage des deutschen Staatsrechtlers Karl Albrecht Schachtschneider kaum erwähnt. Den Mediennutzern gegenüber wurde so getan, als ob es da einfach um einen in Lissabon ausgehandelten Vertrag handle, der den EU-Bürger einfach etwas mehr Rechte zuschanzen wolle … Es gehe darum, die EU „handlungsfähiger“ zu machen, lautete die Sprachregelung.
 
Von den Iren wurde Dankbarkeit eingefordert, weil der Staat 55 Milliarden Euro aus dem EU-Topf bezogen hat, womit aus dem europäischen Armenhaus der „keltische Tiger“ werden konnte; dieser Hinweis gehörte zu jedem Bericht. Der gut gemästete Tiger hat nun selbstbewusst zugebissen – zum Wohle aller Bürger und zum Ärger der EU-Diktatoren.
 
Für das Schweizervolk, das mit solchen Tatbeständen medial kaum behelligt worden ist, wären solche Vorgänge allerdings von höchstem Interesse. Über Bilaterale Verträge und vorauseilende Übernahmen von EU-Bestimmungen werden wir zunehmend an- und eingebunden, Schritt für Schritt. Die Taktik ist überall dieselbe: Das Volk wird tunlichst ausgeschaltet, oder wenn dies unmöglich ist, wird es unvollständig oder verzerrend falsch informiert, damit es sich für den bequemen Opportunismus entscheidet, für die allzu bereitwillige Anpassung und Unterwerfung. Unvollständige Informationen (Beschränkung auf nichtssagendes Kurzfutter ohne Details und Hintergrundanalysen) sind dabei strategisches Mittel, von dem sogar der Europäische Fussballverband Uefa im Prinzip Gebrauch macht: Er übt eine Kontrolle über Bilder und Töne aus und verhindert, dass Rauchpetarden, brennende Fahnen, aufs Spielfeld stürmende Fans oder blutige Spielerköpfe am Fernsehen gezeigt werden. Man hat von den eingebetteten Berichterstattern in Afghanistan und dem Irak gelernt, den gelenkten Sprachrohren neben den Kanonenrohren.
 
So wird dem breiten Volk eine heile Welt vorgegaukelt, wenn immer dies den Geschäften oder der Machtausdehnung dient. Und dann geht’s halt manchmal doch schief. Das ist tröstlich.
 
Hinweis
Wortlauf des Vertragswerks von Lissabon:
 
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