Textatelier
BLOG vom: 10.11.2007

Treppen und Blutwurst für eine psychiatrische Sitzung

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Hier haben wir die Geschichte eines Mannes, der in einem Konflikt mit sich selbst verstrickt ist. Trotz seines tagsüber leutseligen Auftretens zermürbte ihn insgeheim nachtsüber ausweglos sein eigener Quälgeist. Dieser zwang ihn, Treppen zu erklimmen, die nirgends hin führten. Sylvain Eclair kam zum Schluss, dass er unter einer Zwangsneurose litt. Umsonst suchte er nach ihrer Ursache. Niemand ahnte, was in ihm vorging. Hartnäckig schwieg er sich aus. Ahnungslos deutete eines Tages ein Kunde auf eine kurvige Wendeltreppe und meinte: „Über so eine Treppe könnte man in den Himmel kommen!“
*
Sylvain Eclair ist ein erfolgreicher Altwarenhändler. Auf seiner Visitenkarte steht vornehm gedruckt: Architectural Salvage Expert. Wird eine alte Liegenschaft abgebrochen, entrümpelt er alte Treppengeländer, Zinnbadewannen, Wasserhähne, altmodische Fliesen, gusseiserne Heizkörper, Brunnentröge, Dachziegel und was immer sonst die Zeit zur Wiederverwertung zurückgelassen hatte. In einem Riesenschuppen im Edgbaston-Distrikt von Birmingham liegt dieser Nachlass aus alten Zeiten gestapelt. Bauherren und Architekten suchen dort zwischen diesem Gerümpel nach Fundstücken, die sich wieder in alten oder neuen Häusern einfügen lassen. Eine Gruppe von Polen hilft ihm beim Sortieren und Verfrachten von solchem Sperrgut. Immer wieder stösst Sylvain Eclair dabei auf Antiquitäten, die er in seiner dem Schuppen angegliederter Werkstatt renovieren lässt. Dabei durchstöbert er das ganze Land und bereist auch mit seinen Helfern Nordfrankreich.
 
Kürzlich hatte er im Drouot-Auktionshaus in Paris einen originalen Treppenabschnitt des Eiffelturms zum Preis von umgerechnet nur £ 10 000 ergattert. Er wusste, dass er nicht lange auf einen Käufer zu warten brauchte. Dieser Treppenabschnitt fügt sich gut in ein umgebautes Lagergebäude im Dockland an der Themse ein. Die Neureichen balgen sich um solche einmalige Bruchstücke, die ihren Status unterstreichen.
*
„Auf dieser Wendeltreppe kommen Sie nicht weit, geschweige denn zum Himmel“, wandte sich der Händler überraschend vehement an den Kunden, „glauben Sie mir; ich habe es versucht und versuche es noch immer.“ Der Kunde stutzte. Er kannte den Händler seit etlichen Jahren oberflächlich und hatte ihn als bodenständigen Typ eingeschätzt. Beinahe beschwichtigend sagte er zum Händler: „Na ja, ich brauche ihre Himmelsleiter nicht, doch diese buntfarbigen Fliesen“, und reichte ihm seine Visitenkarte und wollte sich verabschieden. „Einen Augenblick bitte“, bat ihn der Händler hastig, „ich muss zuerst das Bestellformular ausfüllen.“ Das war sein Retter, schoss dem Händler durch den Sinn, als er auf dessen Karte den Aufdruck „Psychiater“ las.
 
 „Ich will Ihnen nichts andrehen“, räusperte sich der Händler sichtlich beklommen, „aber wenn ich das nächste Mal in London bin, lade ich Sie zum Nachtessen ein, schliesslich sind Sie ein guter Kunde …“ Das klang mehr nach Bitte denn als nach Einladung. Selbst ein Psychiater kann konfus werden. Warum hatte Herr Eclair obendrein von einem Satz auf den andern seinen dicken Midland-Akzent abgelegt und ihn auf Französisch angesprochen? „Ich bin väterlicherseits Halbfranzose“, erklärte ihm Monsieur Eclair, „und habe eben festgestellt, dass auch Sie einen französischen Namen haben.“ Der Psychiater grinste: „Ça tombe bien“, und nahm des Händlers Einladung an.
*
Von hier an ist der Fortgang der Geschichte im Tagebuch des Psychiaters vermerkt. Dort hält er skurrile Fälle aus seiner Praxis fest, diesmal unter der Überschrift „Der Fall Eclair“:
 
(1) Heute hat mich E. angerufen und gefragt, ob ich die Lyoner Spezialität kenne. „Boudin“, antwortete ich perplex. „Ganz genau. Wenn Sie wollen, kriegen sie dort den besten ,black pudding’ in ganz London“, nannte er mir das Restaurant. „Ich habe nichts gegen Blutwürste, ganz im Gegenteil“, sagte ich. Somit war der Treffpunkt zum Abendessen für übermorgen bestimmt. Immerhin gibt es doch noch einige Käuze in England! Aber es stellt sich die Frage, was E. mit seiner Einladung bezweckt? Ein eingefleischter Händler lädt nicht grundlos einen Halbfremden zum Abendessen ein.
 
(2) E. sass schon im Restaurant, auf mich wartend, und schüttelte mir überschwänglich die Hand. Das war es also …ein Tauschhandel. Ich hatte ihm ja meine Visitenkarte gegeben, als ich die Ladung Fliesen bestellte. „Blutwürste für eine psychiatrische Sitzung!“ Immerhin wählte er eine gute Flasche Rotwein zum Essen, und ich kriegte als Vorspeise ein halbes Dutzend Schnecken.
 
(3) Nach einigem Hin und Her – und hinzufügend, es gehe ihm nicht um eine Gratiskonsultation, sondern nur, um festzustellen, ob ich ihm helfen könne – packte er aus, hier nur stichwortartig festgehalten:
 
(3.1) „Von allen guten Geistern verlassen, jagt mich ein Teufel über Treppen hoch, bald ist eine schwungvolle Treppe, wie man sie in vornehmen Häusern findet, bald eine enge und morsche Holztreppe ohne Geländer.“
 
(3.2) „Plötzlich endet die Treppe. Plötzlich ist es stockfinster. Ich bleibe wie festgenagelt stehen. Ich könnte abstürzen und mir das Genick brechen. Meistens erwache ich dann schweisstriefend.“
 
(3.3) „Das macht doch keinen Sinn, dass ich immer Treppen erklimmen soll, manchmal sind sie endlos lang, manchmal schwanken sie unter meinen Füssen. Sind Sie mit mir einig, dass ich an einer Zwangsneurose leide?“
 
(4) Ich antworte geübt ausweichend und sage, dass ich weder ein Teufelsaustreiber noch ein Traumdeuter bin. „Wenn Sie ein strenggläubiger Katholik sind, gibt es allenfalls das probate Mittel des Exorzismus’ durch einen Priester. Es gibt auch sonst noch viele Mätzchen und Ablenkungsmanöver, die ich hier nicht aufzählen will. Ansonst gibt es für Sie eigentlich nur ein Mittel: die Tiefenanalyse. Die Ursachen finden sich oft in der Kindheit begraben.“
 
(5) „Ursachen, sagten Sie, also mehr als eine …“
 
(6) Das Abendessen zog sich in die Länge, wie ich ihm eine Reihe von Ursachen nannte und begründete. Zuletzt überfiel ich ihn mit der Frage, warum er beruflich Bruchteile aus der Vergangenheit sammle und damit Handel treibe.
 
(7) Damit habe ich seinen wunden Punkt getroffen. „Nein, das ist es nicht, was ich in und mit seinem Leben anfangen wollte“, gestand er nach langer Überlegungspause. „Erst jetzt geht mir auf, dass ich selbst eigentlich bloss aus Bruchstücken meiner Vergangenheit bestehe. Sie haben mir zu dieser Erkenntnis verholfen. Vielleicht kann ich jetzt aus diesen Bruchstücken meines Lebens etwas Brauchbares zimmern. – Und wie steht es mit Ihnen?“
 
(8) Damit hatte er meinen eigenen wunden Punkt getroffen. Auch ich habe einen wiederkehrenden Traum. Ich soll einen Vortrag halten, aber habe meine Notizen vergessen oder verloren. Ich verheddere mich arg. Gleich E. stehe ich auf einer langen Treppe, und blicke in den Abgrund – in ein höhnisch-grinsendes Gesichtermeer.
 
Auch ein Psychiater zieht gern Schlüsse.
 
(9) Nach dem 3. Armagnac waren wir uns einig: Sind wunde Punkte einmal erkannt, können sie – richtig behandelt – zu Pluspunkten werden. Wenn sie sich nicht meistern lassen, kann man sie umgehen. In E. habe ich meinen Psychiater gefunden. Das war ein guter Tauschhandel …
 
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