Textatelier
BLOG vom: 07.09.2007

Rucha Berg: Der 140-jährige Flüelapass, vom Winter geprägt

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Im Herbst 1867, also vor 140 Jahren, konnte der Flüelapass nach einer zweijährigen Bauzeit zum ersten Mal durch ein zweispänniges Fuhrwerk befahren werden, wobei für die Fahrt etwa 4½ Stunden nötig waren. Die Strassenbereite betrug wenig mehr als 4 Meter, und das Bauwerk kostete weniger als 500 000 CHF. Rund 100 Jahre später (ab 1966) wurde die Passstrasse zwischen Susch im Unterengadin und Davos noch einmal auf über 6 m ausgebaut; vor allem die Südseite des Passes (im Bereich der Rusatschkurven oberhalb Susch im Val Susasca, nach dem Namen des Bachs benannt) war kostenintensiv; insgesamt mussten 3 Mio. CHF aufgebracht werden. Heute sind die 26 km bei einer maximalen Steigung von 10 % in weniger als einer Stunde problemlos mit dem Postauto oder mit dem eigenen Vehikel zu bewältigen; viele Teile des Passes verlaufen fast horizontal oder haben nur eine schwache Neigung.
 
Der Pass hat vor allem eine inner-bündnerische Bedeutung, da er nicht einem vollständigen Alpentransit dient, sondern nur ins Quertal Engadin führt. Doch schon seit Menschengedenken wurde er von Fussgängern (inkl. Kriegern) überquert, worauf eine auf der Passhöhe gefundene Lanzenspitze hindeutet; der Saumverkehr war immer bedeutend. Davoser Säumer schleppten Butter und Käse ins Unterengadin und nahmen auf dem Rückweg Korn und Salz (wohl aus dem Salzkammergut) mit. Der Saumweg von Chur über den Strelapass nach Davos und den Flüelapass ins Engadin war einst die kürzeste Verbindung Richtung Tirol oder über den Ofenpass ins Münstertal und in den Vintschgau.
 
Susch
In Susch, wo der Flüelapass in die Unterengadiner Talebene mündet, stehen viele Türme und Wehranlagen; das Dorf wurde mehrmals von Bränden heimgesucht. Besonders auffallend ist neben dem romanischen Turm der reformierten Kirche von 1515 mit dem Zeltdach der Planta-Wohnturm mit seinen gotischen Fenstern und der barocken Zwiebel, der wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammt.
 
Wir füllten bei einem Dorfbrunnen unsere Wasserflaschen mit der herrlichen eiskalten Gletschermilch; wir führen immer genügend möglichst frisches Wasser mit, wenn wir unterwegs sind für den Fall, dass uns die Zeit zum Einkehren fehlt oder in der Höhe das Wasser knapp wird.
 
Eilige Sommer
Bei der Heimreise von der Oberengadin-Exkursion am 26. August 2006 herrschte an der Passstrasse und auch auf der Passhöhe noch eine spätsommerliche Stimmung, und wenige Tage darauf fiel Schnee. Das ist nicht verwunderlich, ist der Flüelapass mit seinem Höhepunkt auf 2383 m ü. M. doch der höchste befahrbare Übergang im Kanton Graubünden. Im Raum Davos und auch auf der östlichen Seite der Flüela, auf der Höhe von Susch, sind die meist trockenen Sommer ausgesprochen kurz; die Übergänge vom Sommer zum Winter und wieder zum Sommer sind meistens abrupt. Für einen Frühling und einen Herbst, welche den Namen verdienen, ist hier die Zeit ausserhalb des Winters meistens zu knapp. Wenn im Unterland schon die Kirschbäume blühen, liegen hier oben oft noch Rekordschneemengen. Und auch im Sommer ist hier oben gelegentlich ein plötzliches Schneetreiben nicht ungewöhnlich.
 
Vereinatunnel konkurrenziert den Flüelapass
Im Sommer werden der Albulapass (siehe Blog vom 03.09.2007: Bergün und der Albulapass, der Passanten gefangen nimmt)) und auch der Flüelapass vorwiegend vom Rundreiseverkehr innerhalb des Kantons Graubünden benutzt. Das Unterengadin mit den Gemeinden Samnaun, Tschlin, Ramosch, Sent, Scuol, Ftan, Tarasp, Ardez, Guarda, Lavin, Susch und Zernez ist auf eine gute Verbindung mit Davos, dem Prättigau und damit mit Chur oder dem Unterland wie Zürich bzw. dem Bodenseeraum angewiesen. Diesem Anliegen dient seit Ende 1999 vor allem der 19 042 m lange, einspurige Vereinatunnel der Rhätischen Bahn (RhB) mit ihrer Spurweite von 1 m. Der Tunnel beginnt in Klosters im Prättigau (1191 m) und erreicht mit der Hauptröhre östlich an der Autoverladestation Sagliains (1432 m), wo sich die Engadinerlinie nach Lavin–Scuol–Tarasp anschliesst. Sagliains befindet sich auf dem Gemeindegebiet von Susch, knapp 1,5 km nördlich des Dorfs am Eingang zum praktisch unberührten Val Sagliains (zwischen Susch und Lavin). Der Vereinatunnel entlastet oder konkurrenziert den Flüelapass, wie mans nimmt.
 
Dennoch stehen die Forderungen, auch die Flüelapassstrasse in den Wintermonaten offen zu halten, nach wie vor im verschneiten Raum, obschon es sich um einen „rucha Berg“ (ein rauer Berg) handelt. Sie ermöglicht eben eine direkte Verbindung mit Davos oberhalb von Klosters. Zudem ist selbstredend auch zu berücksichtigen, dass sich Susch weniger als 50 km oberhalb von Martina, dieser Grenzstation zum Tirol, befindet und der Flüelapass noch immer Teil des landesübergreifenden Systems ist. Insbesondere der Verein Pro-Flüela setzt sich für eine Offenhaltung des Passes auch über die Wintermonate ein, obschon die Lawinengefahr besonders auf der Engadiner Seite erheblich ist (die gefährlichsten Stellen sind mit Galerien geschützt). Seit 2004 wird der Winterdienst der Passstrasse auf dem Gebiet der Landschaft Davos aus touristischen Gründen wieder durchgeführt.
 
Das eher enge Unterengadin steht touristisch etwas im Schatten des weit ausladenden Oberengadins (Blog vom 04.09.2007: Oberengadin: Entwaldet, entsumpft – und immer noch schön), hat aber seinen eigenen Reiz und Charakter.
 
Naturaspekte
Besonders wenn kein Schnee liegt, ist die Flüela ein lohnendes Ziel für Naturfreunde, weil in diesem hochalpinen Gebiet Bodenbeschaffenheit und Pflanzenwuchs ähnlich wie in der Arktis sind. In den Geröllhalden ergeben sich wunderschöne Steingartenbilder. Hoch oben gedeiht zum Beispiel der Gletscher-Hahnenfuss (Ranúnculus glaciális) mit seinen zuerst weissen und später rosafarbenen bis tiefroten Blüten und den dicht rotbraun behaarten Kelchblättern. Und bei unserer Flüelafahrt blühte gerade in grosser Zahl das Rosmarinblättrige Weidenröschen (Epilobium rosmarinifolium) mit seinen purpurroten bis rosaroten Blütenblättern und den langen Griffeln; es wuchs aus grünlichen Granitbrocken heraus und hatte eine Höhe von 60 bis 80 cm, auf denen sich Gelbflechten der reinen Luft erfreuten.
 
Insbesondere auch als Wandergebiet ist der Flüelaraum attraktiv. Schon bei der ersten Kehre oberhalb Susch kann man auf den Geissenweg einbiegen, der steil ansteigt, und, der Südseite der Susasca folgend, talaufwärts gelangen; Schuttrinnen sind problemlos zu passieren, jedenfalls wenn es nicht regnet und die Schneeschmelze vorbei ist. Im „Wanderbuch Unterengadin“ sind viele Variationsmöglichkeiten aufgezeigt, um sich in diesem urtümlichen Gebiet in herrlich frischer Luft zu bewegen.
 
Vom Hospiz nach Davos
Auf der Passhöhe sind ein einfache Hospiz (von 1868/69), eines der Nachfolgergebäude der ersten Schutzhütte, die wahrscheinlich um 1668 erstellt worden war, wie das „Historische Lexikon der Schweiz“ berichtet, und in unmittelbarer Nähe ein kleiner See, an den sich nordwestlich eine Geröllhalde anschliesst. Ein Fischer badete dort Würmer, die im eisigen Wasser sicher frisch geblieben sind, und als ich ihm 1 kg Bergforellen abkaufen wollte, lachte er nur.
 
Auf der Fahrt nach Davos-Dorf (1560 m) durch die Flüela gibt es nur wenig enge Kurven, und man darf einen Blick zum Flüelaberg und zum Pischahorn oder nach links zum Sentischhorn oder zum Büelerhorn wagen, hinter denen das Dischmatal verborgen ist.
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Vom Schweizer Radio DRS werden laufend Berichte über den Zustand der Schweizer Passstrassen ausgestrahlt. Im Moment wird in Bezug auf den Flüela von „schneebedeckt“ gesprochen, und am Albulapass sind bereits Schneeketten obligatorisch. Bei solchen Meldungen sehe ich immer Bilder vor meinem geistigen Auge, die sich unauslöschlich eingeprägt haben, im Gegensatz zu jenen in der freien Natur, die im steten Wandel begriffen sind. Und so muss ich denn meine Welt der Erinnerungen und Vorstellungen bereits jetzt mit einer Schneedecke überziehen – und auch die so entstehenden winterlichen Gemälde haben ihren Reiz.
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com) bezogen werden.)
 
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