Textatelier
BLOG vom: 16.02.2007

Kaum mehr Freizeit in London: Lebensfreude quasi null

Autor: Emil Baschnonga, London
 
Viele haben zu viel Freizeit, besonders die sozial benachteiligten und vernachlässigten Bevölkerungsgruppen, andere viel zu wenig: in 1. Linie Anwälte und City-Leute. Von ihnen wird erwartet, dass sie tagtäglich rund 16 Stunden arbeiten, Wochenende eingeschlossen.
 
Der 27-jährige Matthew Courtney in der City Spitzenpraxis „Freshfields Bruckhaus Deringer“ – als Junior-Anwalt angestellt – wurde tot zwischen dem 6. und 7. Stock des „Tate Modern“ (Museum für moderne Kunst) aufgefunden. Er war ein hochtalentierter Oxford-Absolvent (Christ Church College), ein ausgezeichneter Violinist und Saxophonist, beherrschte nebst Englisch, erst noch fliessend, Französisch, Deutsch und Spanisch. Ob er Selbstmord begangen hat oder nicht, ging aus dem Zeitungsbericht, betitelt „Stressed lawyer plunges to death“ nicht hervor. Im „Tate Modern“ wollte er sein Tagessoll von Pflichtstunden erfüllen – eine merkwürdige Arbeitsstätte hatte er dazu ausgewählt.
 
Als Junior-Anwalt verdiente Matthew £ 55 000. Nach 8 Jahren zum Partner dieser Firma gekrönt, wäre sein Jahresverdienst auf annähernd £ 1 Million hochgeschnellt. Insgeheim hegte er den Wunsch, ein Schriftsteller zu werden, stand im Bericht vermerkt. Er schien heiter und ausgeglichen, hiess es, und kam mit seinen Kollegen gut zurecht und wurde als Mitarbeiter geschätzt. „Wie man sich bettet, so liegt man“, wird mancher denken und die Zeitungsseite umschlagen.
 
Beruflicher Stress ist gewiss nichts Neues – nur derart auf die Spitze getrieben, stimmt er höchst nachdenklich. Wer nicht mithält, wird abgeschoben. „Body and soul“ gehören dem Arbeitgeber. Das in Amerika geheiligte und berüchtigte „Sold time“-Prinzip wird zum erdrückenden Joch. Das ist die Zeit, die den Kunden in Rechnung gestellt werden kann. Wer diesbezüglich hintan hinkt, wird bei der nächsten Geschäftsflaute abgetakelt.
 
Auch ich, damals in Stanford International arbeitend, musste mich über eine genügend anrechenbare Zeit ausweisen, sonst wurde nichts aus der angepeilten Gehaltserhöhung. „Nichts für nichts“ war auch für mich ein unausweichliches Diktum, wenn man eine Familie zu ernähren hat und erst noch seinen Sprösslingen die beste Ausbildung sichern will.
 
Diese Sprösslinge sind inzwischen zu jungen Männern geworden und müssen ebenfalls mehr und mehr Stunden abverdienen, viel mehr als ich damals … Beharrlich machen sie das Beste aus ihrer karg bemessenen Freizeit: Sie spannen innerhalb einer kleinen Gruppe zusammen, komponieren und spielen ihre Art von Musik, von der ich leider wenig verstehe. Ausgelaugt erscheinen sie immer wieder bei ihren Eltern und werden ordentlich aufgepäppelt. Beide Söhne sagen, dass sie bei erster Gelegenheit von ihren Frondiensten ablassen werden. Das habe ich einst auch gesagt und kann ihnen nachfühlen.
 
Ich habe sie aufgefordert, mich als alten „Haudegen“ zum Vorbild zu nehmen. Nächste Woche muss ich in Tschechien eine Anzahl von Interviews mit Geschäftsführern durchführen. Wie immer, habe ich mir dabei eine Spanne Freizeit im Terminkalender eingebaut. Ich werde schon um Mittag in Prag eintreffen, also am Vortag des eigentlichen Arbeitsbeginns. Ich werde dann wieder einmal die Sehenswürdigkeiten von Prag abklopfen. Am Ende des 1. Arbeitstags werde ich in beinahe 4-stündiger Zugsfahrt nach Omolouc (im ehemaligen Mähren) fahren und dort übernachten. Ich hoffe sehr, dass ich nach dem Interview in Usov mindestens 2 freie Stunden habe, um diese wunderschöne Provinzstadt Omoulouc zu besichtigen, gerade ausreichend, um vielleicht einige Eindrücke für ein Blog zu sammeln, ehe ich die lange Rückfahrt gleichentags zum Prager Flughafen antrete.
 
Am meisten beklage ich die jungen Musiker. Jahr für Jahr verlassen 90 bis 100 begnadete Spieler von Streichinstrumenten die 4 Londoner Musikakademien, worunter 10 mit Solisten-Niveau. 2 oder 3 werden bestenfalls auf internationalen Konzertbühnen auftreten. Wer dieses Ziel nicht vor dem 25. Lebensjahr erreicht, wird wie der Rest allenfalls Unterschlupf in einem Orchester finden – sehr oft zu einem Hungerlohn. Einwandfreies Spiel reicht heute bei weitem nicht mehr aus. Heute sind photogene Instrumentalistinnen beim Publikum, so scheint es, besonders beliebt.
 
Mammon treibt heute sein Unwesen mehr als je, in einer Welt, wo sich bald alles einzig um Geld und um Status dreht. Das Schicksal gönnte Matthew keinen Absprung. Sein Absturz, ausgerechnet im Museum der Künste, ist ein Satz, den ich nur so schliessen kann: ein Verdikt unserer Zeit.
 
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