Textatelier
BLOG vom: 23.11.2006

Bioindikatoren Flechten: Die Lebewesen aus Alge und Pilz

Autor: Heinz Scholz, Schopfheim D
 
Am 15. November 2006 wanderten wir zu Dritt – es waren noch Toni und Jürgen mit von der Partie – bei herrlichstem Wetter von Waldmatt (Ortsteil von Häg-Ehrsberg im südlichen Schwarzwald) in Richtung Wannenkopf (1129 m ü. M.) und Weissenbachsattel nach Herrenschwand. Von dort ging es wieder zum Ausgangspunkt zurück.
 
Auf dieser Wanderung sahen wir an den Laub- und Nadelbäumen unglaublich viele Flechten. „Hier ist die Luft noch sauber“, rief ich hocherfreut aus. Meine Wanderfreunde waren ebenfalls ganz aus dem Häuschen, zumal wir in anderen Gebieten des Schwarzwalds oft nur wenige Flechten lokalisieren konnten. Gerade in Zonen, wo die Umweltverschmutzung besonders stark ist, verschwinden die Flechten oder sie zeigen Ausbleichungen.
 
Als ich dann an einem Baum herrliche Exemplare der Bartflechte (Usnea) entdeckte, konnte sich Jürgen nicht mehr zurückhalten. Er nahm einen etwa 30 cm langen grünen Büschel in die Hand, ohne ihn vom Baum abzureissen, und legte sich diesen um seinen Oberlippenbart. Er sah aus wie ein Waldgeist. Wer dies nicht glaubt, kann meine Digitalfotografie anfordern.
 
Auf den anderen Baumstämmen wuchsen reichlich Arten der Schüsselflechte (Parmelia physodes). Vor einigen Jahren konnte ich auf der Gemarkung Schopfheim-Gersbach grossflächige Blattflechten und im Wehratal gelbe Krustenflechten finden.
 
Da ich schon früher einmal in Bruno Vonarburgs „Chrüteregge“ (1983-3) über Flechten einen Artikel geschrieben und in der Zwischenzeit schon vieles vergessen hatte, bot sich nun die Gelegenheit, altes Wissen wieder aufzufrischen. Nun kann ich sagen, dass die Wissenschaft von den Flechten (Lichenologie) so faszinierend ist, dass man ins Schwärmen geraten könnte.
 
Die Doppelnatur der Flechten
Die Flechten sind wohl die absonderlichsten niederen Pflanzen, die es gibt. Sie stellen nämlich eine dauernde Lebensgemeinschaft (Symbiose) zwischen Pilz (Mykobiont) und Alge (Phytobiont) dar. Betrachtet man einen Mikrotomschnitt der Flechte unter dem Mikroskop, erblickt man ein verfilztes Dickicht von Fäden (Pilz) und kleine, kugelige Zellen, die Blau- oder Grünalgen sind.
 
Wie entsteht eine Flechte? Die Flechtensporen bilden sich zu einem Mycel aus. Die Hyphen umwachsen dann die Algen, die in der Nähe liegen oder auf sie fallen. Gelangen die Sporen auf gallertartige Blaualgen, keimen sie aus und wachsen in die Gallerte hinein.
 
Wäre diese Lebensgemeinschaft nicht von beiderseitigem Nutzen, gäbe es sicherlich keine Flechten. Die Algen versorgen den Pilz mit organischen Nährstoffen, die sie mittels Photosynthese gewinnen. Der Algenpartner erhält als Gegenleistung Wasser und Mineralstoffe. Ausserdem wird durch die Alge vor zu starker UV-Strahlung geschützt.
 
Die Flechten sind übrigens keine Schmarotzer oder Halbschmarotzer. Sie entnehmen der Pflanze, auf der sie wachsen, keine Nährstoffe.
 
Es gibt 20 000 Arten
Heute kennen wir 20 000 Flechtenarten. 10 % davon finden wir in Mitteleuropa. Es gibt Krustenflechten, Laub- oder Blattflechten, Strauchflechten – zu diesen gehören die Bart- oder Bandflechten – und die Gallertflechten.
 
Manche Arten sind auf der ganzen Welt verbreitet. Andere wiederum sind in subarktischen und arktischen Gebieten zu Hause. Aber auch in Wüstengebieten und in Höhenlagen bis zu 5000 Metern sind Flechten anzutreffen. Manche Flechtenarten vertragen Temperaturen von minus 47 °C und bis zu plus 80 °C.
 
Die Flechten, die pro Jahr nur wenige Millimeter wachsen, können uralt werden. In der Regel erreichen sie ein stolzes Alter von einigen hundert Jahren. Es gibt sogar Methusaleme unter den Flechten. Eine Landkartenflechte auf Grönland soll ein Alter von 4500 Jahren haben.
 
Die Flechten siedeln sich auf Rinden, Felsen, Glas, Porzellan, Marmor, Eisen, Papier und sogar auf den Panzern von Schildkröten an. Am besten entwickeln sich Flechten in den Nebelzonen der Küsten und im Gebirge, also in Gebieten mit hoher Luftfeuchtigkeit.
 
Flechten als Umweltpolizei
Überraschend wachsen die Flechten nicht in Stadt- und Industriegebieten, da verschiedene Schadstoffe wie Ozon, Schwefeldioxid und Fluorwasserstoff für diese schädlich sind. Man kann durch bestimmte Flechten den Grad der Luftverschmutzung ermitteln, da diese schon auf geringste Konzentrationen ansprechen.
 
Die Flechte wird an einem beliebigen Standort ausgesetzt, und dann wird ihre Reaktion beobachtet. Sind Schadstoffe in der Luft vorhanden, treten Verfärbungen und ein Vitalitätsverlust auf. Letztlich wird die Flechte absterben.
 
Seit 1989 misst die Abteilung für Umwelt im Aargau (Schweiz) das Flechtenwachstum im aargauischen Limmattal zwischen Turgi und Spreitenbach. Die Biologen messen laufend die Flechtendichte an 6 freistehenden Laubbäumen. Das bisherige Ergebnis ist sehr erfreulich: Innerhalb der letzten 15 Jahre hat sich die Luftqualität deutlich verbessert. Die Zone, die früher als Flechtenwüste bekannt war, gehört jetzt zur Zone mit mittlerer Luftverschmutzung. Wie die Biologen betonten, gibt es jedoch noch viel zu tun, um die Luftqualität weiter zu verbessern.
 
Flechten sind Akkumulationsindikatoren für Schwermetalle (die besonders im Feinstaub vorkommen) und radioaktive Substanzen. Nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde eine ganze Menge der radioaktiven Isotope mit dem Wind nach Finnland geblasen. Diese Isotope reicherten sich in der Rentierflechte an, der Lieblingsspeise der Rentiere im Winter. Die radioaktiven Isotope gelangten dann in die Milch und in den daraus hergestellten Käse. Menschen, die den Käse verzehrten, bekamen eine gehörige Portion dieser Schadstoffe ab. Letztlich wird also der Mensch zu einem Schadstoffsammler.
 
Würzmittel und Farbstoff
Baum- und Bergflechten wurden früher ins Viehfutter gemischt, um das Wachstum und die Widerstandsfähigkeit der Jungtiere zu fördern. Beliebt waren anno dazumal zerriebene Gesteins- und Baumflechten als Würzmittel für die Diätkost (Rekonvaleszenz, Appetitlosigkeit), und in Notzeiten dienten sie als Mehlzusatz.
 
In Japan ist eine Flechtenart Bestandteil von süssen Suppen, saurem Salat, oder sie wird in Fett ausgebacken. Aus den Färberflechten stellte man früher die Farbstoffe Lackmus und Orseille her. Durch ein besonderes Verfahren wurden aus Orseille verschiedene Purpurfarben wie Französischrot, Persischrot und Karminrot gewonnen. Die nicht lichtechten Flechtenfarben wurden jedoch schnell durch die Teerfarben verdrängt.
 
Verzweifelter Polarforscher ass Flechten
Der englische Konteradmiral und Polarforscher John Franklin (1786−1847) war um 1820 auf der Suche nach der Nordwest-Passage (Nordwest-Territorien Kanadas). Als die Verpflegung ausging, waren er und seine Mannschaft gezwungen, Flechten und Ähnliches zu verzehren, um zu überleben. Die Expeditionsteilnehmer versuchten sogar, sich Stücke ihrer Lederstiefel einzuverleiben. Franklin erhielt dann den Spitznamen „der Mann, der seine Schuhe ass“.
Dank der Flechten überlebten er und seine Mannschaft. 1845 hatte er auf der erneuten Suche nach der Nordwest-Passage weniger Glück. Er kehrte mit seiner 129 Mann Besatzung von dieser Expedition nicht mehr zurück. Es wird vermutet, dass die Teilnehmer durch eine chronische Bleivergiftung (ausgelöst durch mangelhaft verlötete Konservendosen) starben oder an Skorbut (Vitamin-C-Mangelkrankheit) erkrankten. Es gibt auch Hinweise, dass am Ende sogar Kannibalismus vorherrschte, um zu überleben.
 
Natürliches Antibiotikum in Flechten
Es sind etwa 600 Flechtenstoffe bekannt. Die interessantesten sind die Flechtensäuren Depside, Depsidone, Depsone und Usninsäure, die übrigens von keiner anderen Pflanzenart gebildet werden. Die Flechtenstoffe hemmen die Vermehrung vieler Krankheitserreger oder töten diese ab. Gegenüber Erregern von Mund-, Rachen- und Darminfektionen entfalten sie spezifische antibiotische Wirkungen. Grosser Vorteil von Flechteninhaltsstoffen gegenüber starken Antibiotika: keine Nebenwirkungen, keine Ausbildung von Resistenzen gegen Krankheitserreger.
 
Bestimmte Polysaccharide aus Flechten, aber auch Pilzextrakte von Champignon, Igelstachelbart und Polyporus (Eichhase), sollen eine Wachstumshemmung bei der bösartigen Gewebegeschwulst, Sarkoma 180, entfalten.
 
Flechten als Arznei
Die Flechten wurden schon im alten Ägypten als Heilmittel verwendet. Im Mittelalter stiegen die Anwendungsmöglichkeiten erheblich. So war man der Ansicht, dass Pflanzen, die bestimmten Körperteilen ähnelten, auch für diese hilfreich seien. Man verwendete die Bartflechte als Haarwuchsmittel, die Lungenflechte gegen Lungenkatarrh und eine gelbe Flechte gegen Gelbsucht. Epileptiker erhielten Flechten, die auf Totenschädeln wuchsen.
In China dienten Flechtenextrakte zur Behandlung von Hautleiden.
 
Die Bartflechte (Usnea barbata), auch Bartmoos, Baumbart genannt, wurde früher gegen Schleim- und Blutfluss, Durchfall, Ruhr und Magenschwäche verordnet.
 
Aus dieser Flechtenart werden heute Extrakte hergestellt und zu Lutschpastillen (z. B. Granobil) verarbeitet. Die Pastillen enthalten ausserdem Gummi arabicum aus Akazien und fruchtzuckerhaltiges Birnensaft-Konzentrat. Wenn man solche Pastillen lutscht, tritt der folgende Effekt ein: Die Inhaltsstoffe breiten sich in Mund und Rachen wie ein Schutzfilm auf den Schleimhäuten aus und wirken dort gezielt gegen die Erreger. Darüber hinaus wirkt das Naturheilmittel dem Hustenreiz und der Heiserkeit entgegen. Die Pastillen sind deshalb Menschen, die ihre Stimmbänder besonders strapazieren, wie Redner, Lehrer, Schauspieler und Sänger, besonders zu empfehlen.
 
Persönlich kann ich dies bestätigen. Anlässlich meiner Vorträge im Bildungshaus Neustift in Südtirol und in Rielasingen lutschte ich vorher und in den Pausen solche Pastillen. Meine Stimmbänder dankten es mir. Ich verspürte keine Trockenheit, Heiserkeit oder Kratzen im Hals. Mein Mundwerk lief im wahrsten Sinne des Wortes wie geschmiert.
*
Nach dieser Exkursion in die Welt der Flechten zurück zu unserer Wanderung. Jürgen sammelte noch einige Flechten von am Boden liegenden Zweigen für seine Weihnachtskrippe ein. Er machte das richtig, da man von Bäumen keine Flechten abreissen sollte. Ich machte mich dann zu Hause bezüglich der aufgefundenen Bartflechte schlau. Es gibt nämlich mehrere Arten dieser Gattung. Wahrscheinlich handelte es sich hier um den Gewöhnlichen Baumbart (Usnea filipendula).
 
Es ist erstaunlich, welch eigenartige und wunderbare Lebewesen die Flechten sind. Auch werde ich jetzt Toni und Jürgen, die in Gesangsvereinen ihrem Hobby frönen, Lutschpastillen mit Flechtenextrakt empfehlen. Eine gute Stimme ist ihnen dann gewiss.
 
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