Textatelier
BLOG vom: 10.04.2006

Beendet Prodi Berlusconis unverhülltes Staats-Gangstertum?

Autor: Walter Hess
 
Haben die Italiener der Vernunft Vorrang gewährt? Sie hätten sich mehrheitlich für Romano Prodi ausgesprochen, hiess es zum Zeitpunkt der Wahllokalschliessung am Montag um 15 Uhr; dann lag wieder Berlusconi vorn, der Jesus der Politik, der auch einmal für ein biblisches Wunder gut ist.
 
Silvio Berlusconi, gottähnlich, verjüngt, geliftet, mit Kosmetika maskiert und auf Schuhen mit hohen Absätzen dahertrappelnd, ist der Inbegriff des neokonservativen Globalisierers. Diese Geschäftemacher stehen ausserhalb der irdischen Gesetze und bedienen sich der Medien als Werkzeuge zum Manipulieren und Regieren, was früher kommunistischen Ländern vorbehalten war. Ich komme aus der Medienbranche und hätte damals, während des Kalten Kriegs, nicht erwartet, dass so etwas in den „freien“ Ländern einmal überhaupt möglich sein könnte. Und schon gar nicht in diesem Ausmass. Aber man kann sich ja täuschen.
 
Italiens „Aufschwung“ manifestierte sich für uns ausländische Beobachter vor allem in privaten und dann ebenfalls staatlichen TV-Programmen aus der alleruntersten Schublade, in Umweltzerfall und auch darin, dass sich nicht nur Damen, sondern auch eitle Männer Schönheitsoperationen leisten können, wenn sie das Maskenhafte nach Berlusconi-Manier lieben. Vielleicht sind Italiener etwas eitler als andere Erdbewohner; ich weiss es nicht. Sicher nicht alle.
 
Der Bush-Jünger
Il Cavaliere Berlusconi wurde zum wahren Geistesverwandten, Busenfreund und Weggefährten von George W. Bush, der all die erwähnten Machenschaften einschliesslich der Mediatisierung der Politik im globalen Stil vorbildhaft betreibt und sich mit immer mehr Waffen, auch mit Atombomben, umgibt und mit Drohgebärden dafür sorgt, dass seine weltbedrohende und -destabilisierende Politik Jubel statt die verdiente vernichtende Kritik findet. Im Moment spricht man gerade von der Vorbereitung eines US-Atomwaffenschlags gegen den Ölstaat Iran wegen dessen Urananreicherung zur Energieerzeugung, ohne dass sich die mediale Weltöffentlichkeit gross über einen möglichen Atomwaffenschlag der Atomwaffen-Grösstmacht USA gegen den an sich legalen Kernenergieausbau des Iran aufregt. Die US-Regierung liess die Kriegsgerüchte zaghaft dementieren, was ja nichts heisst.
 
Die Staatsgangster
Der Begriff vom Staats-Gangstertum, der in einem „Spiegel“-Bericht über die Berlusconi-Biografie („Citizen Berlusconi
als Anspielung an den Filmtitel „Citizen Kane“ über den Medienzar Randolph Hearst) von Alexander Stille auftauchte, gilt für beide: Bush und Berlusconi manipulieren die leider manipulierbar gewordenen Systemmedien, schüchtern politische Gegner ein, haben keine Berührungsängste zu Korruption und Bilanzfälschungen, verbiegen Gesetze, und Bush setzt sich sogar über das Völkerrecht hinweg, lässt Zivilbevölkerungen (in Afghanistan und im Irak) bombardieren und foltern, Neuauflagen des Vietnamkriegs, wo auch C-Waffen tonnenweise eingesetzt wurden. Die Millionen von Invaliden in Vietnam konnten nicht einmal ein Wort der Entschuldigung entgegennehmen.
 
Kritikloses Mitmachen ist Bürgerpflicht. Wer nicht für sie ist, ist nach Bush- und Berlusconi-Doktrin gegen sie. Und für seine Gegner und jene des Mitte-rechts-Bündnisses hatte der italienische Regierungschef Berlusconi die vulgäre und abfällige Bezeichnung „Coglioni" (Hoden) parat, was umgangssprachlich wohl am treffendsten mit dem deutschen „Schafsäckel“ zu übersetzen ist. So viel zu den Machenschaften beziehungsweise Verbalattacken von wirklichen Geistesgrössen ... zur freien Interpretation.
 
Religiosität verleiht Immunität
Wer dem Idealbild des Neokonservativen entsprechen will, muss sich einen religiösen Talar umhängen – in Italien, das sich um den Vatikan schart, gibt es dafür Anschauungsunterricht genug. Der grosse Berlusconi über den grossen Berlusconi: Ich bin der Jesus Christus der Politik. Ich bin ein geduldiges Opfer, habe mich selbst für alle geopfert.“ Bush seinerseits pflegt das veröffentlichte Morgengebet und empfängt seine Direktiven in der Diretissima von ganz oben (und natürlich auch von seinen irdischen Sponsoren). Da zeichnen sich neue Reiche Gottes ab; sie sind das einzig Geistige, worauf man sich innerhalb des Neokonservativismus noch fokussieren kann. Kein Wunder, dass sich die treu ergebene Bush-Verehrerin Angela Merkel und mit ihr die deutsche Christdemokratie auf die Seite Berlusconis gestellt haben.
 
Der biblische Herrschaftsauftrag
Der religiös untermauerte, fundamentalistische Neokonservativismus findet in der Bibel eine Grundlage, die für geld- und machtgierige Ausbeuter und Globalisierer nicht idealer sein könnte: „Wachset und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf Erden sich regen.“ Das bedeutet im Klartext, dass der christliche Mensch geradezu aufgerufen ist, sich breit zu machen und nach Strich und Faden alles auszubeuten, was es auf Erden auszubeuten gibt. Solche ethischen Grundlagen prägen das kriegerische Abendland mit seinem Unterwerfungs- und Zerstörungsdrang seit 2 Jahrtausenden, und sie rechtfertigen auch die landwirtschaftlichen Folterkammern, in denen die Schlachttiere im Rekordtempo herangemästet werden. Das Merkel-Regime mit dem C im Parteinamen kann es sich fast protestlos leisten, die Hühner wieder in Kleinstkäfige einsperren zu lassen, eine nationale Schande mit den Ziel der ökonomischen Gewinnmaximierung: Wachset und vermehret den Gewinn ... Diese Ergänzung ist im erwähnten verhängnisvollen Bibel-Zitat inbegriffen; es dient als Blankocheck.
 
Der Neokonservativismus, der mit der Religions-Vermarktung in den USA einhergeht, ist im Moment dabei, mittelalterliche Zustände noch zu übertreffen. Zum Mehren des Gewinns ist alles erlaubt – Utilitarismus in Reinkultur. Das Nützliche, Gewinnbringende allein ist die Grundlage des sittlichen Verhaltens. Würden sich die nicht zur westlich-christlichen Wertegemeinschaft gehörenden Regierungschefs auch nur annähernd verhalten, wie Berlusconi bis jetzt getan hat, erhielten sie ein Einreiseverbot; ihr Land würde boykottiert, und es würden Haftbefehle ausgestellt. Carla del Ponte müsste sie einfangen lassen. Doch wer zum Globalisierungsclub gehört, hat nichts dergleichen zu befürchten. Die Clubzugehörigkeit verleiht automatisch Immunität vor Strafverfolgungen.
 
Die Nacht ist gekommen
Innerhalb der neokonservativen Philosophie, der von den letzten Skrupeln befreiten Fortsetzung des Neoliberalismus, braucht man nur noch medial aufzufallen, und man kann es sich dabei leisten, seine Schandtaten und sein unkorrektes Benehmen nicht einmal mehr zu verstecken. Man kann sie sogar gleich noch an die grosse Glocke hängen und zusammen mit dem heiligen Bimbam erklingen lassen. Berlusconi bei einem Korruptions-Prozess über sich selbst: „Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich, aber vielleicht ist dieser hier noch ein bisschen gleicher als die anderen, angesichts der Tatsache, dass ihm 50 Prozent der Italiener die Verantwortung übertrugen, ihr Land zu regieren.“ Das war einmal. Und der Über-Gleiche stieg während seines ungebremsten Schaltens und Waltens auf das Niveau der Globalkultur ab und stimmte Schnulzen an wie „Drück mich, drück mich stärker, drück mich an dich! Ich fühle, du gehörst mir, ich will dich – in der Nacht, die kommt.“ So lockt man scharenweise Fans an. Bricht nun die politische Nacht über ihn herein? Es ist Nacht, und die Italiener zählen weiter.
 
Der Nachfahre von König Midas
Ich hatte für die Italiener, die ich in allen Ehren halte und die nicht zu beneiden sind, durchaus Verständnis, als sie damals, im Mai 2001 (nach einem kurzen Gastspiel 1994 zum 2. Mal) notgedrungen Berlusconi wählten: An vorderster Front waren es die katholische Kirche und die Gewerkschaften gewesen, welche das Arbeitsleben, die Medien und die Moral bis dahin bestimmt hatten. Die Zustände waren schwer erträglich. Und Berlusconi war ein Hoffnungsträger, erschien dank seines schauspielerischen Talents im Licht des Strahlemanns, einem direkten Nachfolger von König Midas ähnlich, bei dem alles, was er anfasste, zu Gold wurde. Italien erwartete unter seiner Führung goldene Zeiten. Berlusconi versprach eine neue Ära, die Erneuerung an sich. Sie kam tatsächlich, ohne dass er seine übrigen Wahlversprechen halten musste, aber nicht in der erwarteten Art. Er war ein absoluter Herrscher, der gierig seine Finanz- und Privatmacht ausbaute, auf Kosten des Volks – von wem denn sonst? Das Land Italien geriet unter seinem Regime immer tiefer in die Verschuldung. Er verbog Gesetze zu seinen Gunsten und legte dabei ein infantiles und auch vulgäres Benehmen an den Tag. Das Ansehen Italiens, das schon unter den vorherigen mafiösen Zuständen nicht das beste gewesen war, erhielt zusätzlich Schlagseite.
 
Die Sprache des Volks
47 Millionen Italiener, denen etwas Demokratie zu gönnen wäre, waren am Sonntag und Montag, 9. und 10. April 2006, zur Parlamentswahl aufgeboten; sie nahmen fleissig daran teil: etwa 86 von 100 bemühten sich an die Urne. Der parteilose Wirtschaftswissenschaftler, EU-freundliche ehemalige EU-Kommissionspräsident und Kandidat des Mitte-links-Bündnisses Romano Prodi („L'Unione“ aus Linkssozialisten, Grünen und Kommunisten, die Prodi 1998 im Parlament zu Fall gebracht hatten) versuchte mit seriösem Gehabe, dem Berlusconi-Treiben ein Ende zu setzen. Das zeichnete sich bereits nach Schliessung der Wahllokale am Montag ab 15 Uhr aufgrund von Nachwahlbefragungen ab, wurde zunehmend zur Gewissheit – und dann schien sich alles wieder ins Gegenteil zu drehen. Offenbar hat vor allem die Berlusconi-Partei Forza Italia an Kraft verloren. Aber ob damit das politische Ende ihrer Gallionsfigur besiegelt wurde, steht noch nicht fest.
 
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