Textatelier
BLOG vom: 08.12.2005

Koalition für Kultur-Vielfalt: Nicht Amen (Ej-Män) gesagt

Autor: Walter Hess
 
Es gab einmal eine Zeit, in der die kulturelle Vielfalt kein Thema war. Sie war einfach da. Jedes Land, ja jede Region, jede Gemeinde und noch kleinere Einheit pflegte ihre speziellen kulturellen Äusserungen. Und dann überrollte die US-amerikanisch dominierte neoliberale Monokultur das Spezielle und machte daraus massentauglichen Pop mit der Hinwendung zum Trivialen, Simplen. Es war nicht mehr zum Aushalten. Denn „der Mensch lebt nicht von Brot und Wasser, auch nicht von Luft und Liebe, und schon gar nicht von Geld allein. Wir alle brauchen Kultur zum Leben. Und wie jeder Mensch seine ganz eigene, spezielle Identität hat, die ihn von allen anderen klar unterscheidet, so speziell sind auch seine künstlerischen Ausdrucksformen, aber auch seine Vorlieben in Bezug auf kulturelle Stimulation“ (so Beat Santschi).
 
Und aus solchen Gründen wurde am 28. September 2005 in Bern die Schweizer „Koalition für kulturelle Vielfalt“ ins Leben gerufen, und bei eben diesem Anlass hielt Santschi eine gute Rede, aus der das obige Zitat stammt. Er wurde zum ersten Präsidenten gewählt. In seiner Ansprache wies er noch darauf hin, dass die Bemühungen der Welthandelsorganisation WTO darauf hinauslaufen, auch kulturelle Äusserungen als Unterhaltungsprodukte zu betrachten und den globalen Handelsregeln zu unterwerfen. Diese Bestrebungen werden insbesondere im Rahmen des GATS (General Agreement on Trade in Services; Allgemeines Abkommen über den Handel im Dienstleistungssektor) gebündelt. Dieses Abkommen, das der Globalisierungsmanie noch die Krone aufsetzt, unterjocht öffentliche Dienstleistungen aller Art in aller Welt dem Kommerz; das einfache Volk zahlt die Zeche und verarmt. Da ist es dann mit der Gleichmacherei vorbei.
 
Zu den Dienstleistungen gehören unter anderem die im Zerfall begriffene Bildung, die Gesundheit (Klartext: Krankheitsvermarktung), die Wasserversorgung und eben auch die Kultur, selbst wenn die meisten Staaten den kulturellen Sektor bisher für eine beschränkte Zeit von den Verhandlungen ausgenommen haben. Doch diese Zeit läuft allmählich ab, und der neue WTO-Generaldirektor Pascal Lamy hat laut Santschi bereits durchsickern lassen, dass jetzt vielleicht der Kultursektor angegangen werden könnte. Er bleibt der Linie somit treu. Mit anderen Worten bedeutet das, dass jetzt auch die Kultur der neoliberalen Ökonomie unterworfen wird. Santschi: „Dass diese Gefahr durchaus auch in der Schweiz besteht, zeigt das Beispiel des Quotenanteils für einheimische Filme, der vom Bundesrat schon 1993 für ein Landerecht der Swissair in Atlanta eingetauscht wurde.“ Und die Swissair ist definitiv gelandet. Es schadet nicht, gelegentlich daran zu erinnern.
 
Aus solchen Gründen hatte die Unesco-Generalversammlung bereits im Oktober 2003 beschlossen, eine Internationale Konvention zum Schutz der Vielfalt kultureller Inhalte und künstlerischer Ausdrucksformen zu erarbeiten. Nach mehreren langwierigen Verhandlungsrunden und zahllosen Änderungen liegt nun seit Juni 2005 ein anerkennenswerter Text vor, der u. a. folgende Elemente enthält:
 
Die Kultur ist keine Ware
1) Die Anerkennung der Besonderheit kultureller Güter und Dienstleistungen, damit diese als Träger von Identitäten, Wertvorstellungen und Sinn nicht wie einfache Waren, Konsumgüter und Dienstleistungen betrachtet werden können.
2) Die Anerkennung des uneingeschränkten Rechts der Staaten, Massnahmen zur Förderung und zum Schutz der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen zu ergreifen, darin eingeschlossen auch die Vielfalt der Medien. Kurz: Das Recht der Staaten auf eine eigene Kulturpolitik.
3) Die Anerkennung der grundlegenden Rolle der kulturellen Vielfalt als Faktor nachhaltiger Entwicklung, insbesondere in den Entwicklungsländern.
4) Die Anerkennung der Notwendigkeit, der kulturellen Vielfalt einen Platz in der internationalen Rechtsordnung einzuräumen, wobei die Gleichberechtigung der Konvention und der anderen internationalen Rechtsinstrumente gewährleistet ist.
 
Laut „Info 3/November 2005: Autorinnen und Autoren der Schweiz“ hatten sich über 55 Organisationen (der Künstlerinnen und Autoren, Kultur- und Medienveranstalter, Organisationen des Buchwesens und der Urheber, Nichtregierungsorganisationen und andere) am Vorabend der Unesco-Generalversammlung versammelt, um den Abschluss der internationalen Konvention zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt zu unterstützen. Diese Konvention, an deren Entwurf die Schweiz wesentlich mitgewirkt hat, wurde Ende Oktober 2005 gegen den Willen der USA in Paris verabschiedet (ich habe darüber im Blog von 24. Oktober 2005 kommentierend berichtet).
 
Das Abseitsstehen der USA in kulturellen Belangen deckt sich mit der Missachtung des Umweltschutzes. Beides hat etwas mit Bildung beziehungsweise mit deren Unauffindbarkeit zu tun.
 
Das kam mir kürzlich an einem Christmas-Song-Nachmittags in den Sinn, als die Bells jingleten, und nach „We Wish you a Merry Christmas“ das „Amen“, das sich wie Ej-Män anhörte, ertönte und mir das Say Amen zu diesen globalisierungs-kompatiblen Amerikanisierungen in ihren swingenden und groovenden Arrangements erschwerte. Ich bin zwar ein Anhänger von Volksmusik aus aller Welt – es gibt in allen Ländern wunderschöne Lieder. Mich stört nur, dass die kommerziell verbreiteten Gesänge immer und beinahe ausschliesslich aus der gleichen Ecke der Erde kommen müssen. Die Verhältnismässigkeit stimmt nicht mehr.
 
Ich wünsche Ihnen deshalb viele Silent Nights – ohne überflüssige Songs, dafür mit viel individueller häuslicher Kultur.
*
Nachtrag: Sogar die Wahl von Moritz Leuenberger zum Schweizer Bundespräsidenten vom Mittwochmorgen, 7. Dezember 2005, mit 159 Stimmen (von 237 Anwesenden) wurde vom einheimischen amerikanisierten Radio DRS1 mit Johnny Cashs „Hotter than pepper sprout“ begleitet – immerhin ergab sich zufällig noch ein Bezug zum Nichtwahlantrag, der von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gestellt worden war.
 
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