Textatelier
BLOG vom: 19.11.2005

Londons königliche Parade – ein Blog aus der Vorzeit

Autor: Emil Baschnonga
 
Dieses Blog wurde im Mai 1974 geschrieben, ehe es dieses Wort gab und bevor das Blogatelier geboren war. Ich belasse es genau so, wie ich es damals geschrieben habe und bedaure nur, dass es heute kaum mehr solche Käuze wie Mr. Collyns gibt. Selten hört man heute noch die Anrede „Sir“, ausser im „Harrods“ oder in teuren Restaurants. Auch die  von mir geschätzte „jam roll with custard“ ist inzwischen zur Seltenheit geworden. Alles kommt mir wieder in den Sinn, als sei es heute geschehen. Deshalb berichte ich hier weitgehend in der ,historischen’ Gegenwart“.
 
Knapp 5 Minuten zu Fuss von den Bürohochhäusern Croydons entfernt sind wie aus Vergesslichkeit einige Strassenzüge dieses Londoner Vororts unverändert erhalten geblieben. Mehrere Trödlerläden locken mich hin und wieder über die Mittagszeit in diese Gegend. Aber auf einen Fund ganz anderer Art bin ich dabei auf der ihnen gegenüber liegenden Strassenseite gestossen.
 
„Royal Parade“ heisst das Esslokal und übertrifft tatsächlich das für England typische Durchschnittscafé, von den Einheimischen liebevoll „Käf“ genannt. Ich setze mich an den mit dem rotweiss-karierten Plastiktuch bedeckten Tisch. Blitzblank und sauber ist das Besteck, fleckenlos der Telleruntersatz und sorgfältig gefaltet die Papierserviette daneben. Wie Pulte in der guten alten Schulstube sind die 15 Tische auf 3 Reihen verteilt.
 
Keiner der Stammgäste beachtet den höchst sonderbaren Kellner, der wie ein Paradeoffizier, Respekt gebietend, die Bestellungen abnimmt und sie im tadellos artikulierten Oxford-Englisch an die Küchenbrigade weitergibt, mit aller Stimmgewalt eines Obersten über die Köpfe der Gäste hinweg.
 
„Sie kommen ganz bestimmt als Nächster an die Reihe“, wendet er sich schliesslich an mich und reicht mir die Speisekarte meines Sitznachbarn. Vermutlich deutet er mein Starren als Zeichen meiner Ungeduld, denke ich und senke rasch den Blick. Schliesslich bin ich hier nicht im Kino, wiewohl mir das Spektakel, wie es sich vor meinen Augen abspielt, ausnehmend gut gefällt.
 
„Allein heute?“ begrüsst der Ober eine eben eintretende Dame und weist ihr zuvorkommend einen Platz an meinem Tisch. Verwundert verfolge ich, wie er, meinem Nachbarn zugebeugt, die Bestellung wie ein Beichtgeheimnis abnimmt. Dann richtet er sich hoch, strafft den Rücken und wiederholt das Bestellte allseits vernehmlich: „Steak and kidney pie, very well, Sir!“ Im gleichen Atemzug noch hilft er dem Gast auf die Zutaten und zählt sie sichtlich vergnügt auf: „2 vegetables“ (so wie es in England gang und gäbe ist) – „peas and cabbage – and would you care for some carrots as well?“ (Erbsen und Kohl, und möchten Sie ausserdem noch etwas Rüben?)
 
Der Gast nickt dankbar zu seinem Vorschlag. Als er ihm den gefüllten Teller bringt, beugt sich der Kellner wiederum über mich und sagt: „Now, it is indeed your turn (jetzt sind Sie wirklich an der Reihe)“. Würde ich die Prüfung bestehen und meine Bestellung formgerecht an ihn vermitteln? Der Kellner nimmt mich ins Verhör, und räuspernd gestehe ich ihm meinen Wunsch: „Chicken pie mit den gleichen Zutaten.“ Ich deute auf den Teller nebenan. Hatte ich richtig gehört? Laut hat er mir ins Gesicht gesagt, dass ich beinahe so exzentrisch sei wie er. Wieso? Die Dame neben mir schmunzelt unterdrückt. Schon war der Kellner weg, nachdem er unwiderruflich meine Bestellung stimmgewaltig an die Küche weitergegeben hatte. „Yes, and a cup of tea, too, for the gentlemen“, schickt er nach.
 
Bestellt ist bestellt. Doch so ausgefallen kann doch mein Gemüse zur Huhnpastete nicht sein, oder liegt dies an den Sandalen, die ich heute irrtümlich zu meinem Anzug mit Krawatte trage? (Ich war heute Morgen in grösster Eile gewesen, weil ich mich verschlafen hatte.)
 
Mitteilsam eröffnet mir die gute Frau, dass der Kellner hier nur am Mittwoch über die Mittagszeit aushelfe. „Ein Mensch mit Humor und so zuvorkommend … einzigartig.”
 
„Gewiss“, murmle ich noch verwirrt mit festgefrorenem Lächeln. Eben höre ich das Unikum rufen: „Jam roll with custard!“. Das bringt mich wieder ins Gleichgewicht, denn auf diese will ich seinetwegen keineswegs verzichten.
 
Was immer er den Gästen auftischt, begleitet er es mit einem „Thank you very much, Sir (oder Madam)“, und sichert sich damit ebenfalls das Dankeschön der Bedienten. Wirklich, hier geht es zu und her wie im „Ritz“.
*
Über mein wiederholtes Dankeschön kam ich schliesslich zu meiner Konfitürenrolle, mit warmer, dottergelber Vanille-Sauce übergossen. Nachher konnte ich den sonderbaren Kellner unauffällig über den Rand meiner Teetasse ins Auge fassen. Äusserlich fiel allenfalls sein fahlblondes Haar auf. Ich nahm ihm, von hinten betrachtet, Jahre ab, aber gab sie ihm, von vorne gesehen, wieder zurück. Schütter fielen ihm Haare über die zurückweichende Stirnglatze wieder ins Gesicht. Wie tief zufrieden er in seiner Rolle aufging, dieser Glückspilz! Ich schätze ihn auf Mitte 50. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, doch von woher, das wusste ich nicht mehr.
 
Ausser mir schien ihn niemand sonst im Geringsten zu beachten. England, heisst es, sei das Paradies für Käuze aller Art. Aber warum, wenn sie niemand wahrnimmt, ausser ein Fremder wie ich? Für 3 Shillings hatte ich währschafte Hausmannskost genossen, mit der Unterhaltung im Trinkgeld inbegriffen. Was wollte ich mehr? Auf dem eiligen Rückweg ins Büro, wo alles wieder gesichtslos in den normalen Arbeitstag zerfloss, vergass ich den Kauz bald wie eine weggelegte Momentaufnahme.
*
„Herr Collyns erwartet Sie“, sagte die Sekretärin und hielt mir die Türe zu seinem Büro weit offen. Stracks spazierte ich mitten in die Momentaufnahme: Niemand anders als der Kellner vom „Royal Parade“ erhob sich und begrüsste mich ohne Wimpernzucken über das wuchtige Mahagonipult hinweg, diesmal wohl in seiner Hauptrolle als Direktor einer Werkzeugmaschinenfabrik. Natürlich erinnerte ich mich: Hier bin ich ihm zum 1. Mal begegnet. Ich liess mir keineswegs anmerken, dass ich ihm in seiner Nebenrolle im „Royal Parade“ vor kurzem begegnet bin. So verhedderte ich mich bei der Aufzählung der Vorteile des Planungsdienstes meines Arbeitgebers. „Oh dear“, seufzte er und strich sich mit der Hand über die Stirnglatze, „Sie sind beinahe so exzentrisch wie ich.“
 
„Warum?“ fragte ich und wusste, dass wir uns beide wieder erkannt hatten.
 
„Mit Anzug und Sandalen tauchten Sie im ,Royal Parade’ auf und betrachteten mich wie ein Weltwunder.“ Wir lachten gleichzeitig.
 
„Einmal pro Woche verlasse ich den Zwinger hier“, wies er mit ausholender Gebärde in den grosszügig weiten Raum. „Das ‚Käf’ gehört mir und ersetzt mir den Golfplatz, hält mich fit. Nur so halte ich diese Strapazen aus“, deutete er schmunzelnd auf den Stoss der Berichte, die ich ihm aufgetischt hatte. „Wenn Sie mir versprechen, niemand davon ein Sterbenswörtchen zu sagen, kaufe ich dieses Programm, solange es mir hilft, Zeit fürs ‚Käf’ zu gewinnen!"
 
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