Textatelier
BLOG vom: 02.10.2005

Vernissage „Bözberg West“: Weckrufe im Morgengrauen

Autor: Walter Hess

Der 1. Oktober 2005 hat mir in den letzten Monaten einige zusätzliche graue Haare beschert: Dieser Termin für die Vernissage zur Neuerscheinung des Buchs „Bözberg West“ stand seit dem Frühjahr 2005 unverrückbar fest. Er wurde festgelegt, als Heiner Kellers Werk erst im Entstehungszustand war. Würden wir rechtzeitig damit fertig? Klappte es mit dem Druck? Würde die Vernissage unter dem freien Himmel bei der altehrwürdigen Linner Linde allenfalls ins Wasser fallen?

Seit diesem 1. Oktober bin ich erleichtert und höchst erfreut: Alles, aber auch gar alles, hat geklappt. An der Qualität unseres 3. Verlagsobjekts wurden keine Abstriche gemacht – es wurden keine Fünfe gerade sein gelassen, wie man in der Schweiz in etwas ungehobeltem Deutsch sagt –, und dennoch konnten die Termine eingehalten werden. Alles war äusserst knapp. Alles klappte, sogar das Wetter. Noch am Vorabend kündigten alle Wetterfrösche Regen für den Samstagmorgen an – zuerst ausgerechnet im Jura. Und der Samstagmorgen war dann in Tat und Wahrheit aber trocken, schwankte zwischen Nebelstimmungen und Aufhellungen.

Die Vernissage begann um 8.30 Uhr. Es war unter dem Dach der zwischen 700 und 800 Jahre alten Linner Linde kühl, aber trocken. Speckbrot und frische Baumnüsse verhalfen zu Kalorien – frischer, vollmundiger Apfelsaft schmeckte herrlich. Aber wahrscheinlich wäre ein Glühwein das richtige Getränk gewesen. Wir haben uns das für die nächste Vernissage im herbstlichen Morgengrauen gemerkt.

Die Linner Linde und Linn

Die Frau Gemeindeammann von Linn, Vreni Hirt, stellte in ihrer mütterlich-warmen Art vor weit über 100 Frühaufstehern die 22 m hohe Linde mit ihrem Stammdurchmesser von rund 11 Metern vor. Der sagenumwobene Riese habe manch einen Sturm erlebt und mehr als einmal gebrannt, sagte Frau Hirt. 1979 wurde der Baum chirurgisch behandelt, und im Jahrhundertsommer 2003 während 10 Tagen mit total 360 000 Liter Wasser getränkt. Weniger imposant sind die Zahlen in Bezug auf die Gemeinde Linn, diese zweitkleinste Aargauer Gemeinde mit 147 Einwohnern – da liegt der Charme im Filigranen. Linn ist eine kompakte Siedlung in einer weitgehend unverbauten Juralandschaft mit einem Ortsbild von nationaler Bedeutung – die Folge der Stagnation, wie ich beizufügen wage. Die Bauernhäuser sind im Dorf eng aneinandergereiht, und verschiedene Altbauten sind ortsbildgerecht um- und ausgebaut worden; einige Neubauten sind abseits der Hauptstrasse entstanden.

Die zierliche Vreni Hirt wies auf die Folgen der Kleinheit hin: Die meisten Einwohner müssen einmal eine Gemeindefunktion übernehmen, und eigene Vereine gibt es in Linn nicht. „Man kann die Stille und Einsamkeit voll geniessen“, fügte sie bei. Trost brauchte es nicht. Etwas unruhiger dürfte das Jahr 2006 werden: Dann kann Linn das 700-Jahr-Jubiläum feiern. Die erste Erwähnung der Gemeinde bezieht sich also auf jene Zeit, als die Linde heranzuwachsen begann.

So wusste man also, wo man war, und man fühlte sich angesprochen, genoss den nebligen Morgen, dann wieder die orangefarbenen Aufhellungen am Himmel zwischen Basel und Zürich. Ein rhetorisches Feuerwerk entwickelte anschliessend der ehemalige Gemeindeammann von Bözen, Hans Peter Joss. Jedem könne es passieren, dass er einmal Unsinn redet, schlimm werde es erst, wenn er es feierlich tue, sagte er. Seiner Art und seinem Naturell entsprechend liess er die Feierlichkeit gleich weg. Die Rede ist es wert, hier im Wortlaut wiedergegeben zu werden.

Die Vernissagerede von Hans Peter Joss

Meine lieben Gäste, in Bözen fragte man sich, wieso ihr ehemaliger Gemeindeammann sich mit diesem grün-intellektuellen Heiner Keller verbinde. Der passe ja gar nicht zu ihm – ich der Mann von der Wirtschaft und er der biologisch- intelligente, käuzische Naturmensch.

Es kam noch viel schlimmer: Unsere erste Begegnung hinterliess mir den Eindruck eines stock-konservativen Bürgers, eine Persönlichkeit, welche das Rad gut und gerne 100 Jahre zurückschrauben möchte. Einer der die Werte der Vergangenheiten schätzt, den Werten allerdings, die sich bewährt haben und die schützenswert sind. Ich sass einem Menschen gegenüber mit hoher Sensibilität für Landschaft und Natur. Einem Manne, der unser Gebiet – Bözberg West – nicht nur als Ökologe oder hohem Militär am Herzen liegt.

Durch unser Forum „Bözen braucht Impulse“ sind wir aufeinander gestossen. Heiner Keller würde gerne ein Buch über Bözberg-West schreiben und unsere Impulse für die Region kämen ihm da entgegen. Wirtschaftsmann und Naturschützer. Wenn das nur gut kommt …

In unserem Forum predigten wir, dass nur die Region kräftig genug sei, die unaufhaltsame Entwicklung zu planen und zu gestalten. Mitten in den dynamischen und zukunftsfähigen Wirtschaften der Metropolitane Zürich − das down-town switzerland (Zentrum der Schweiz) − und Basel befindet sich unsere einmalig-gelegene, noch jungfräuliche Region.

Die Feinfühligkeit und die profunden Kenntnisse von Ökologie und Geologie von Heiner Keller kommt in seinem Buch voll zur Geltung: „Vom Bözberg her betrachtet“, ich zitiere aus dem Buch – „gleicht unsere Landschaft in der Abenddämmerung der Toskana: Sanft, weit eingerahmt von Wäldern mit den Dörfern, unsichtbar in den Tälern“.

Bözberg-West: Die Toscana des Aargaus! Da sind wir schon ein bisschen stolz.

Als gestresster ehemaliger Wirtschaftsmensch pedale ich seit gut einem Jahrzehnt Bözberg West ab. Den Vergleich machte ich aber erst, als ich in diesem Herbst mit meiner Frau die Toscana per Velo besuchte. Erst jetzt spürte ich, was Heiner Keller so ergreift. Und für diese Feststellung „Bözberg-West – die“– ich sage es so gern – „Toscana des Aargaus“ fuhr ich 856 km.

Besuchen Sie doch einmal unseren Nettenberg oberhalb Bözen (das Orchideenparadies), den Rugen zu Effingen oder den Steihübel Richtung Elfingen. Beachten Sie die sanften Hügellandschaften mit ihren herrlich gelegenen Rebbergen. Machen Sie Halt in einer unserer Gaststätten, junge dynamische Gastronomen verwöhnen Sie − Toscana pur.

Und ganz nebenbei: Dort, wo Reben wachsen und Wein gekeltert wird, treffen Sie auf fröhliche Menschen. Keiner weiss das besser als ich, ich bin ja schliesslich Präsident der Bözer Reb- und Weinfreunde. Ein paar flotte Leute wie Sie passten zu uns, mit uns verbringen Sie unvergessliche Stunden …

Heiner Keller hat unsere Region zutiefst lieb. Und wer etwas von Herzen lieb hat, kämpft dafür, kritisiert unmögliche Zustände und Entwicklungen. Zu einem guten Standortmarketing ist es unabdingbar, den Finger auf Unschönheiten zu drücken. Dass das weh tut, versteht sich. Eigentlich müssen wir diesem edlen Kämpfer schlicht und einfach danke sagen.

Heiner Keller betitelte mich bei einem unserer engagierten Treffen als unverwüstlichen Optimisten. Und im herrlichen, emotionsgeladenen Dialog bezeichnete ich sein Werk als seine persönliche Psychohygiene. Meine Leute in Bözen wissen es: Ich liebe die engagierte Auseinandersetzung − mehr als das friedliche „Schulterklopfen“.

Heiner: Wenn Deine aufrüttelnden Zeilen bewirken, dass unsere Region im Team besser vorankommt und die These „Wer gemeinsam wirkt − multipliziert, wer alleine wurstelt − addiert“ verstanden wird, ist unser Ziel erreicht.

Die Fusion unserer Gemeinden ist der letzte Schritt; er wird uns finanziell aufgezwungen: Was können wir dagegen tun? Wir müssen die Stärken bündeln. Die Fähigsten unserer Region sind gefragt. Den Dörfligeist müssen wir dort ablegen, wo er wirklich keinen Sinn ergibt.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel, was eine Stärkenbündelung bringen könnte: Bözen und Zeihen erneuern innerorts ihr Wasser- und Abwassernetz. Beide Werke kosten mehrere Millionen. Studien belegen es: Würde man diese Arbeiten gemeinsam planen und koordiniert ausführen, könnte die Ersparnis gegen 20 % ausmachen. Bei rund 3 Mio. CHF wären dies immerhin über eine halbe Million. Konkret: Wasser und Abwassergebühren würden um diese 20 % günstiger – Jahr für Jahr. Jeder von uns hätte etwas davon!

Die Raumplanung wird künftig in Aarau per Region beurteilt. Es ist sinnlos, wenn jede Gemeinde eine (zu) kleine Gewerbezone ausscheidet. Einen Sinn ergibt sich auch nicht, wenn Wohnbau-Einzonungen an Lagen erfolgen, welche nicht nachgefragt oder betriebskostenmässig für die Gemeinde zu teuer sind.

Die Demografie kann in unseren Dörfern nur noch regional gelöst werden – Stichwort Schule, Alter, Alterspflege. Die Region ist klar gefordert – eine Gemeinde allein kanns nicht schaffen.

Bözberg West ist – wie Heiner Keller explizit feststellt – eine hochinteressante und lebenswerte Region. Bözberg West ist der Geheim-Wohntip zwischen Basel und Zürich − so ein kürzlich erschienenes Zitat in der NZZ.

Sie kommen nachher mit auf unsere kulinarische Wandertour der „Toscana des Aargaus!“ Sie werden nicht enttäuscht sein − Bözberg West wird Sie so charmant und ausgezeichnet bewirten wie dies in Montepulciano, Siena oder Florenz der Fall ist. Heiner Keller wird Ihnen unterwegs für alle gewünschten Auskünfte zur Verfügung stehen.

Bözberg West – s’bescht für Gäst! Linn ist der Beginn.“

Soweit Hans Peter Joss, ein Bözberger Urgestein von der quirligen Sorte, schwungvoll und knorrig wie die Linner Linde. Wenn es noch eine Bestätigung gebraucht hätte, dass das „Bözberg West“-Buch von Heiner Keller haargenau zur Philosophie der Verlag Texatatelier.com passt, in Joss’ Ansprache hätte ich sie gefunden. In einer kurzen Begrüssungsansprache hatte ich diese wie folgt umschrieben: „Das Verlagsprogramm ist auf die Wertschätzung des eigenen Lebensraums ausgerichtet. Wir versuchen, mässigend auf die Globalisierung einzuwirken und sind eher der Regionalisierung zugetan. Wir haben also beim Büchermachen ähnliche Zielsetzungen wie die Regionalorganisation dreiklang.ch, mit der wir heute zusammenarbeiten dürfen. Dem initiativen Geschäftsführer Peter Bircher danke ich dafür herzlich.“

Exkursion in Innerbözberg

Unter dem Patronat dieser angesehenen Organisation stand die nachfolgende Wanderung von Effingen nach Elfingen und über Bözen nach Hornussen, die gegen Mittag in den Regen führte. Es war ein „kulinarisches Flanieren durch die oberfricktalischen Rebberge“. Der 1. Halt wurde in der Rebsiedlung Büchli in Effingen gemacht, ein Grossbetrieb (für unsere Verhältnisse) mit 5,8 Hektaren Rebfläche. Darauf wachsen die Sorten Blauburgunder, Riesling×Sylvaner und Gewürztraminer. Seit 2000 gibt es auch neue Sorten: Dornfelder, Zweigelt und Gamaret.

Zur Rebsorte Zweigelt belehrte mich der ebenfalls mitwandernde Blogatelier- und Buchautor Heinz Scholz („Richtig gut einkaufen“) dahingehend, dass der Zweigelt eine der populärsten Rebsorten in Österreich ist. Er wird in der Schweiz und in Deutschland in nur geringen Mengen angebaut. Es handelt sich um eine Kreuzung aus Blaufränkisch×Sankt Laurent und geht auf Dr. Fritz Zweigelt (1922) zurück. Diese Sorte reift früher als Blaufränkisch und bringt teilweise hohe Erträge. Die Farbe ist hellrot; der Wein hat eine kräftige Säure und einen gehaltvollen Körper.

In Elfingen-Steihübel wurden traditionsgebundene önologische Spitzenprodukte wie Stieglitz, Pinot gris und Bio-Weine degustiert. In Bözen (Lindenthal) begrüsste Werner Pfister die gestaffelt ankommenden Wanderer (rund 300 an der Zahl) mit einem Schiller, einer gelungenen Mischung aus Weiss- und Rotwein aus gleichzeitig geernteten Trauben. Eine feine Kürbissuppe mit Kürbiskernöltropfen wärmte die Gemüter auf.

Und in der Turnhalle Bözen servierte der Gourmet-Koch vom „Pöschtli“, Peter Heuberger, zusammen mit den Bözener Rebfrauen ein delikates Mittagessen mit Kartoffelstock, Voressen und Blaukraut zu einem fruchtigen Chardonnay und einem Malbec mit südlichen Charme. Bei diesem Wetter konnte man das gebrauchen.

Am späteren Nachmittag landete die Gesellschaft, die den dreieckigen Dreiklang.ch-Wimpeln bei Regen gefolgt war, bei einer Metzgete im Rebgut Stiftshalde in Hornussen. Dem Tagesthema „Landschaft, Ässe und Wy“ wurde also alle Ehre erwiesen. Man lernte erkennen und schätzen, was die Region Bözberg West an Lustbarkeiten zu bieten hat.

Und das Buch dazu liegt jetzt auch vor. Es ist, wie ich an der Vernissage sinngemäss sagte, kein Werbeprospekt, sondern eine ehrliche, persönliche Beschreibung einer wunderschönen Region, die sich den Einflüssen der Zivilisation und Globalisierung zwar nicht entziehen kann, die aber selbstbewusst genug ist, um ihre Stärken zu präsentieren und allfällige Schwächen zu erkennen und auf individuelle Art zu beheben.

Hinweise

Heiner Keller: „Bözberg West. Landschaft zwischen Basel und Zürich“, Verlag Textatelier.com GmbH, CH-5023 Biberstein 2005. ISBN 3-9523015-2-3.

 

Weiteres Blog über eine Buchvernissage

05. 2005: „P(r)ost festum: Rückblick auf die Textatelier-Vernissage“

 

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12. 09. 2005: „Belebende Töne in Dur: Regionalorganisation dreiklang.ch“

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