GEDULDSPROBEN
Wernfried Hübschmanns Blog
Über die Tugend der Geduld in Corona-Zeiten
Geduldsfaden  1 
  Geduld muss man üben, Geduld muss man proben. Niemand  kann das einfach so. Es wird uns nicht in die Wiege  gelegt. In der Wiege liegen nur volle Windeln, ein  Plastikschnuller, Hunger, Durst, Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies (dem  Mutterleib) und eine dumpfe, vor-rationale Ahnung davon, dass es gute Gründe geben könnte, sich auf diese Reise  einzulassen, die Leben heißt. Und dann warten wir unser ganzes Leben darauf,  dass jener paradiesische Zustand wiederkehren möge, den wir gut neun Monate  lang genossen haben. In dem wirklich alles zu unserem Nutz und Frommen  eingerichtet war. Einfach paradiesisch. Mit der Geburt beginnt dann das  Schlamassel. Die Geduldsprobe. Das Auf-die-Folter-gespannt-Werden. Der  Warteraum, genannt Alltag.
Geduldsfaden  2 
Geduld soll man proben? Wie ein Theaterstück? Wie einst  die Plebejer den Aufstand probten und dann nicht ausführten? Wie man Sprechen  und Laufen lernt, Fahrradfahren, mit Messer und Gabel zu essen, wie man Klavierspielen  lernt? Wie probt man so etwas wie Geduld?  Wie lernt man warten? Vor allem dann,  wenn wir gar nicht wissen, worauf wir warten? Vielleicht, weil wir auf  etwas warten, das wir noch nicht kennen. Auf das große Glück. Die große Liebe.  Den Lottogewinn. Das große Los. Auf Godot? Welchen Text sollen wir denn proben? Gehen wir! Wir gehen. Sagen Wladimir  und Estragon. Und bleiben dann doch. Bleiben? Gehen? Warten?
Geduldsfaden  3 
  Wenn wir etwas wollen, dann wollen wir es sofort. Das  ist meistens albern, kindisch und ganz unrealistisch. Die Idee mit den  Instant-Suppen von Maggi, Knorr & Co war schon damals eine unausgereifte,  irgendwie pubertäre Vorstellung und ein kulinarisches Desaster. Wir brauchen  das, was man psychologisch „Impulskontrolle“ nennt, Bedürfsnisaufschub-  Kompetenz, Selbst-Steuerung. Wartenkönnen, Durchatmen, Sitzfleisch. Geduld also. Die Fähigkeit, ein Ziel über  längere Zeit geduldig anzusteuern, zu „verfolgen“ wie eine Beute.  Strategisch denken, planen, das ist es. Schritt für Schritt handeln.  Wenn wir immer alles sofort  und jetzt und gleich wollen,  sind wir entweder verwöhnte Kinder, aggressive  Hedonisten und Egoisten oder einfach Dummköpfe. Geduld ist also eine Form  sozialer Intelligenz? Warum ist „Geduld“ dann kein Pflichtfach in der Schule?  Kann mir das mal jemand erklären? Ich warte …
Geduldsfaden  4 
  Als jemand, der damals (als das noch üblich war) oft mit der Bahn unterwegs war, weiß ich, wie man  Geduld übt. Oder genötigt wird, sie zu erlernen. Die Deutsche Bahn ist dafür  super. Sie ist eine Art Volkshochschule mit Spezialkursen für Geduld. Grundkurs  (Nahverkehr), Fortgeschrittenenseminar (ICE), Master-Class (Fahrten im  Hochsommer oder Tiefwinter). Die Züge sind technisch nur für eine  Außentemperaturen von plus 35 Grad bzw. minus 12 Grad ausgelegt. Dann  kollabieren die Kühl- und Heizaggregate. Ganze Abteile werden sofort  publikumswirksam mit Rot-Weiß-Band abgesperrt. Aus Versicherungsgründen, versteht  sich. Verspätung allein ist schon teuer. Kreislaufkollaps von  Fahrgästen wird aber noch viel teuer für die leidgeprüfte Bahn. Und wenn wider Erwarten  die Kühlung Ende Juli doch funktionieren sollte, hetzt man mit Schweißperlen auf der Stirn zum Zug und  in den Waggon, wo ein Sitzplatz reserviert ist (sofern die Anzeigen  funktionieren). Tropische Hitze draußen, dann gefühlte minus vier drinnen. Ist  das ein ICE oder ein Kühlfach? Einmal bin ich kurz hinter Kassel vor dem  Zugchef auf die Knie gegangen und habe laut gerufen: ICH BIN KEIN FISCHSTÄBCHEN! Er hat mich mitleidig angeschaut und mir die Hand  gereicht, als hätte ich ihm einen Heiratsantrag gemacht. Demütigend, sage ich Ihnen! Niemand versteht mich
… seufz!
Geduldsfaden  5 
  Also gut: ich habe verstanden: Geduld wird ja als  „Tugend“ gehandelt (lat. virtus,  virtutis). Wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Fairness und  so. Das hilft im Alltag. Sei nicht so ungeduldig, sagte meine Mutter immer.  Erst lass mich fertig sein, sagte mein Vater. Während vom Fußball-Bolzplatz  herrlicher Schlachtenlärm herüberschallte. Alles schwarze Pädagogik! Also, dann warten  wir eben: auf den ersten Schultag,  auf den letzten Schultag, auf den ersten Kuss, aufs erste Mal, aufs Abitur,  auf das Examen,  auf das erste Auto, das eigene Gehalt, das erste  Kind, die neue Stelle, das Weihnachtsgeld, und den Tag, an dem wir unsere Freiheit  wieder haben. Nein, das ist nicht der Hochzeitstag des jüngsten Kindes. Auch  nicht der Eintritt ins Rentenalter. Das ist der Tag, an dem der Hund stirbt.  Man muss nur Geduld haben.
Geduldsfaden  6 
  Was passiert, wenn uns der Geduldsfaden reißt? Wenn wir  aus der Haut fahren? Wenn uns etwas über die Hutschnur geht? Wenn wir die Nase  voll habe? Wenn es uns reicht? Wenn also die Geduld nicht ausreicht, die  aktuelle Lage ruhig und gelassen zu ertragen. Das ird’sche Jammertal. Wenn das  Auto mitten auf der Fernstraße an der Algarve  stehenbleibt. Wenn der 5-jährigen  Großnichte zum dritten Mal das Eis zu Boden fällt. Wenn der junge Kollege auch  nach vier IT-Seminaren noch nicht weiß, wie man eine Excel-Tabelle anlegt.  Ach, der Alltag ist voll von solchen Fäden, die reißen können. Man  könnte hübsche Teppiche aus den Geduldsfäden klöppeln oder knüpfen, die  gerissen sind. Oder Topflappen stricken, wie damals. Gedulds-Ikebana. Überhaupt  seht es so aus, dass die asiatischen Kulturen sich leichter tun mit den  Geduldsübungen. Warum das so ist? Ich weiß es nicht,  habe aber eine Vermutung. Wir im Westen  wollen so schnell wie möglich von A nach B (siehe Deutsche  Bahn). Im Buddhismus und Taoismus ist der Weg das Ziel. Und „Weg“ ist immer.  Ziel ist nur am Ziel.
Geduldsfaden  7
Wir werden über weitere Zumutungen und Prüfungen in  Zeiten von Corona nachdenken und sprechen müssen. Über Mut, Übermut, Demut,  Sanftmut, Helmut, alle aus der großen Familie der Tugenden. Die Zeit, unsere  Zeit, stellt uns und (fast) alles in Frage. Darüber nächstens mehr. Nur Geduld!
Ihr
  Wernfried  Hübschmann
  www.wernfried-huebschmann.de
(Im März 2021)
Hinweis auf weitere Blogs von Hübschmann Wernfried
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