Textatelier
BLOG vom: 21.08.2017

Wann man früher die kalte Schulter zeigte - Reisen und Hygiene im Mittelalter

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Wir leben scheinbar in einer Zeit, in der Ängste aller Art eine immer grössere Rolle spielen, seien die Gefahren real oder statistisch gesehen minimal. Die Angst, sich irgendwo (bei Fremden oder in öffentlichen Orten wie Verkehrsmitteln, Spielplätzen, usw.) anzustecken, ist eine davon.

Momentan verzeichnen Anbieter von Desinfektionsmitteln steigende Umsätze. Über den
Sinn oder Unsinn dieser bakterienabtötenden Mittel kann man streiten. An manchen Orten, z.B. im Krankenhaus, kann das sinnvoll sein, im täglichen Leben vermutlich nicht, da dann - vor allem der kindliche Organismus- keine Abwehrkräfte aus sich heraus bilden kann.

Wenn ich das Wort: Xenodochium in ein griechisch-deutsches Online Wörterbuch eingebe, erhalte ich die Übersetzung: Geschichte des Krankenhauses. Bei einem lateinisch-deutschen Online Wörterbuch erhalte ich den Hinweis Ausgangssprache Griechisch und die Übersetzung Krankenhaus. Beide Lösungen befriedigen mich nicht, gehe ich doch von xeno aus, das fremd bedeutet. Ursprünglich waren es nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Herbergen für Arme auf der Wanderschaft oder Pilgerreise, die Xenodochien.

Obwohl die historischen Quellen in der Hauptsache eine Verbindung zwischen Xenodochien und Wallfahrten ziehen, gab es sie auch schon in der Antike . Der römische Kaiser Julian, zwar durch einen Onkel christlich getauft und in das Christentum eingeführt, wandte sich wieder davon ab und den Neuplatonikern, also Anhängern der alten Religion zu. Quellen zufolge gründete Julian, angeblich in Gegnerschaft zu den Christen, Xenodochien, als Herbergen für Fremde und Reisende.

In der christlichen Idee der Nächstenliebe und nach dem Sieg des Christentums wurden den oft Kirchen angegliederten Xenodochien noch andere Aufgaben zugewiesen, sie trugen Sorge auch für ortsansässige Bettler, Witwen, Waisen, Alte, Kranke, Gebrechliche. Erst um das Jahr 800 werden Xenodochium und Hospital als gleich bezeichnet, später setzte sich Hospiz und Spital durch, wobei der Begriff hospitium seit dem 12. Jahrhundert Gastwirtshaus, Herberge und Verpflegung bedeutet, und hospitari Gast sein, als Gast bewirtet werden und Einkehren. (Vom Studium und im Beruf kenne ich das Verb hospitieren, das ‘als Gast zuhören’ bedeutet und davon abgeleitet ist.) Heute ist das Hospiz keine christliche Herberge für Reisende, insbesondere für Mönche und Pilger mehr, sondern eine Einrichtung zur Pflege und Betreuung Sterbender.

Im Mittelalter war das Reisen und Pilgern nicht ungefährlich, im Hochgebirge drohten Erfrierungen, immer wieder auch Überfälle mit Raub und Totschlag. Auch Fährleute bereicherten sich dadurch.

Seit der Jahrtausendwende richteten Städte und Ritterorden grosse Spitalanlagen ein, für Kranke aber eben auch für Durchreisende und andere. Das barg natürlich eine weitere Gefahr, die der Ansteckung mit Krankheitskeimen aller Art. Der Reisende konnte krank davon werden, aber auch immun oder er trug die Keime in die nächste Herberge weiter. Auch tödlich verlaufende Krankheiten, wie die Pest, waren darunter.

Natürlich können wir nicht von einem Komfort ausgehen, den wir heutzutage in Hotels und Pensionen gewöhnt sind. Im Mittelalter schlief man in der Regel nackt und war meist nicht allein im Bett. Es wurde anfänglich auch nicht nach Geschlechtern getrennt, was manchmal zu intimen Begegnungen führte. Wollte man diese nicht, drehte man dem Bettnachbar den Rücken zu und zeigte die kalte Schulter, eine Redensart, die wir heute noch immer kennen und benutzen.

(Ich erinnere mich an eine Reise als Student - vor über ca. 45 Jahren - „per Autostopp“ von Freiburg im Breisgau nach Italien. Meine Freundin und ich übernachteten in Jugendherbergen, natürlich nach Geschlechtern getrennt. In der Schweiz gab es in einer kleinen Jugendherberge Räume mit jeweils nur einem Bett für männliche und einem Bett für weibliche Reisende. Es war ein Etagenbett, in dem oben und unten jeweils 10 Personen schlafen konnten! Und bei einem Abstecher von Triest in das damalige Jugoslawien wurde in den Schlafräumen nicht nach Geschlechtern getrennt.)

Zurück ins Mittelalter. Gesetz den Fall, es war bereits dunkel, wenn man die Herberge erreicht hatte. Licht war teuer und oft nicht vorhanden, also kroch man zu den anderen ins Bett. Wer nachts ein menschliches Bedürfnis erfüllen musste, tastete sich auf den Hof und in den Stall. Es war nicht sicher, dass der Reisende anschliessend im Dunkeln seinen vorherigen Schlafplatz wiederfand. Ebenso wenig war es sicher, dass am nächsten Morgen die Kleidungsstücke nebst den mitgeführten Utensilien überhaupt noch dort lagen, wo man sie ausgezogen und deponiert hatte. Hygiene wurde eher klein geschrieben, eine tägliche Waschung war absolut unüblich, dementsprechend muss es immer ziemlich gestunken haben, aber daran war der Zeitgenosse gewöhnt. (Im heutigen Indien ist es an vielen öffentlichen Plätzen und Strassen übrigens nicht anders! Der Versuch der Regierung, öffentliche Toiletten einzurichten, wird häufig ignoriert und galt damals wie heute als Luxus.))

Geschlafen wurde entweder auf Strohsäcken oder auf Lagern mit getrocknetem Farnkraut. Decken gab es oft nicht, zum Zudecken sollte der eigene Mantel dienen. Es war übrigens nicht unüblich, das Stroh oft wochenlang nicht zu wechseln. Bettwäsche musste selbst mitgebracht werden, wollte man nicht ohne schlafen.

Und wenn es in den grösseren Städten einmal ein öffentliches Bad gab, war der Unterschied zwischen Bad und Bordell öfters verwischt und das gemeinsame Verweilen beider Geschlechter in einem Zuber war durchaus üblich.

Zu essen gab es in den Herbergen oder im Hospiz häufig nur etwas Brot und Käse oder eine Suppe. Hochgestellte Persönlichkeiten führten mit ihrem Gefolge üppigere Mahlzeiten bereits von zu Hause aus mit.

Dafür kostete die Unterkunft und Verpflegung für Pilger und andere Reisende im frühen Mittelalter auch nichts, sondern wurde durch die Kirche, die Städte oder durch Spenden finanziert. Es war nicht üblich, Geld mitzuführen, schon wegen der Gefahr, überfallen zu werden.

Wenn heutzutage immer mehr nach Sicherheit für alle und jeden gerufen wird, wenn die Regierungen Reisewarnmeldungen herausgeben, weil in einigen Ländern Anschläge vorgekommen sind, wenn viele Menschen gleich nach Verantwortlichen suchen, wenn ihnen ein Missgeschick passiert ist, von dem sie meinem, dass die Kommunen oder Privatpersonen verpflichtet gewesen wären, sie davor zu bewahren, frage ich mich, was diese Menschen wohl im Mittalter getan hätten. Jeder war für sich selbst verantwortlich, es gab zwar eine Obrigkeit, aber die war oft nicht zur Stelle und viele Verbrechen blieben ungesühnt. Geschweige denn von hygienischen Zuständen, auch bei Lebensmitteln, zu reden. Anfänglich gab es in den Xenodochien und Hospizen auch keine Ärzte, denn die Heilung kam von Gott oder sie kam nicht. Sicherheit gab es nicht, weder zu Hause noch auf Reisen, man lief immer irgendwo Gefahr für Leib, Leben und Hab und Gut.

So überrascht es mich immer wieder, wenn ich von Personen lese, die in die dieser Zeit gelebt und ein hohes Alter erreicht haben, worunter ich 60, 70 oder gar 80 Jahre verstehe. Standen sie in all den Jahren unter besonderem göttlichen Schutz oder hatten sie nur einfach schieres Glück, so lange gelebt zu haben? Oder sind sie im Laufe des Lebens immun gegenüber Ansteckungen gewesen?

Quellen:
Ohler, Norbert, Reisen im Mittelalter, dtv Sachbuch, München, 3. Auflage vom Januar 1993,
S. 122ff.
Borst, Arno, Lebensformen im Mittelalter, Ullstein Sachbuch, Frankfurt/M und Berlin, 1979

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst